Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Sunnitische Muslime stellen etwa 84,7 bis 89,7 Prozent der afghanischen Bevölkerung. Der Rest besteht größtenteils aus schiitischen Muslimen (10 bis 15 Prozent), vornehmlich Angehörige der ethnischen Gruppe der Hazara. Die frühere Verfassung des Landes erkannte offiziell 14 ethnische Gruppen an, darunter Paschtunen, Tadschiken und Hazara. Die Paschtunen machen mit ungefähr 42 % der Bevölkerung die größte Gruppe aus, gefolgt von den Tadschiken mit ungefähr 27 %, den Hazara mit 9 %, den Usbeken mit 9 %, den Turkmenen mit 3 % und den Belutschen mit 2 %. Andere Bevölkerungsgruppen machen zusammen etwa 8 % aus.[1]
Die Taliban übernahmen im Jahr 2021, mehr als zwanzig Jahre nach ihrer Vertreibung, erneut die Macht. Mit der Errichtung eines Islamischen Emirats wurde der bisherige rechtliche Rahmen des Landes grundlegend verändert. Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan[2] von 2004 ist unter dem derzeitigen Taliban-Regime nicht mehr in Kraft. Zwar haben die De-facto-Machthaber wiederholt angekündigt, eine neue Verfassung ausarbeiten und in Kraft setzen zu wollen, doch wurde bislang kein entsprechendes Dokument veröffentlicht.
Während des ersten Emirats (1996–2001) erarbeitete ein Ulema-Rat eine Verfassung, die das Islamische Emirat institutionalisieren sollte; sie wurde jedoch nie offiziell verabschiedet. Diese Charta basierte weitgehend auf der Verfassung von 1964 unter König Mohammed Zahir Shah, welche eine konstitutionelle Monarchie, demokratische Wahlen, Gewaltenteilung und eine Grundrechtecharta zur Begrenzung staatlicher Macht vorsah – all dies wird von den Taliban abgelehnt.[3]
Obwohl die Taliban im September 2021 erklärten, das alte Dokument vorübergehend anwenden zu wollen, geschah dies faktisch nicht.[4]
Trotz anfänglicher Versprechungen, alle Gruppen einzubeziehen, zeigte sich das Taliban-Regime zunehmend ausgrenzend und bevorzugte Mitglieder der südpaschtunischen Taliban gegenüber der politischen Vertretung anderer Gruppen. Der Oberste Führer, Emir Hibatullah Achundsada, hat seine Macht weiter zentralisiert und gefestigt.[5]
Im Mai 2022 veröffentlichten die Taliban ein 312-seitiges Manifest mit dem Titel „Al Imarat al Islamiah wa Nizamuha“ (Das Islamische Emirat und seine Ordnung).[6] Verfasst wurde es vom obersten Richter der Taliban, Abdul Hakim Haqqani. Es basiert auf der hanafitischen Rechtsschule, der die sunnitische Bevölkerungsmehrheit folgt. Für die schiitische Minderheit bedeutet dies einen Rückschritt gegenüber der Verfassung von 2004, die erstmals in der Geschichte des Landes der schiitischen Jaʿfarī-Rechtsschule eine begrenzte Anerkennung einräumte.[7]
Ordentliche Gerichtsverfahren spielen im juristischen Denken der Taliban kaum eine Rolle. Wichtige Ernennungen und Dekrete in Verwaltung, Gesetzgebung und Justiz erfolgen unter der Autorität des Emirs, ohne Rücksicht auf Gewaltenteilung. Viele Gesetze werden ohne ordnungsgemäße Veröffentlichung per Dekret erlassen; in manchen Fällen reicht bereits eine Aussage eines Anführers aus, um ein Dekret in Kraft zu setzen. Seit August 2021 haben die Taliban rund hundert Erlässe und Anordnungen herausgegeben, die die Menschenrechte massiv einschränken – besonders schwerwiegend sind die Auswirkungen auf Frauen und religiöse Minderheiten.[8]
Ein weiteres Problem besteht darin, dass örtliche Funktionsträger häufig sofortige „Gerechtigkeit“ walten lassen – oft ohne ordentliches Gerichtsverfahren. Die Strafen reichen von öffentlicher Demütigung über körperliche Züchtigung bis hin zur Amputation von Gliedmaßen selbst bei vergleichsweise geringfügigen Delikten wie Diebstahl. In besonders schweren Fällen wie Apostasie oder Blasphemie droht die Todesstrafe. So wurden laut Angaben zweier lokaler Quellen sowie eines Taliban-Vertreters im Februar 2022 eine junge Frau und ein Mann in der nordöstlichen Provinz Badachschan wegen angeblichen Ehebruchs zu Tode gesteinigt.[9]
Die Todesstrafe für Vergehen wie Apostasie und Blasphemie bleibt bestehen. Zugleich kündigten die Taliban drakonische Strafen selbst für Bagatelldelikte an und setzten diese auch um – darunter Gliedmaßenamputationen bei Diebstahl.[10]
Die Taliban haben zudem eine rasche Umstrukturierung des Justizsystems eingeleitet. Eine der gravierendsten Maßnahmen dabei war die Auflösung der Generalstaatsanwaltschaft im Juli 2023, wodurch die Rolle der Staatsanwälte faktisch abgeschafft wurde. Seither verantworten Richter sämtliche Aspekte des Verfahrens – von der Fallannahme bis zur Urteilsverkündung – ohne die bislang übliche Ermittlungstätigkeit durch Anklagebehörden.[11] Das Fehlen einer schriftlich fixierten Verfassung und kodifizierter Gesetze verstärkt die Sorge vor willkürlicher Auslegung des Rechts und einer erhöhten Gefahr von Fehlurteilen.[12]
Das sogenannte „Ministerium für die Förderung von Tugenden und Verhinderung von Lastern“ ist die zentrale Behörde für die Erteilung der meisten Verhaltensvorschriften und operiert mit etwa 5.000 Einsatzkräften.[13] Diese Institution, deren Polizeiapparat für seine Härte und seine islamistisch-extreme Ausrichtung berüchtigt ist, wurde im Jahr 2001 aufgelöst, jedoch im September 2021 neu gegründet – anstelle des bis dahin bestehenden Frauenministeriums. Über seine Anordnungen setzt das Tugendministerium Vorschriften durch, die es für alle Afghaninnen und Afghanen als verpflichtend ansieht – entweder aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Islam oder, im Falle von Nichtmuslimen, aufgrund ihres Status als Untertanen eines islamischen Staates.[14]
Am 8. November 2023 wurde das Gesetz zur Anhörung von Beschwerden verabschiedet, das die Zuständigkeiten des Tugendministeriums bei der Bearbeitung von Eingaben gegen staatliche Amtsträger festlegt. Demnach sind sämtliche staatlichen Institutionen – einschließlich der Gerichte – verpflichtet, auf Anfragen des Ministeriums zu reagieren. In schwerwiegenden oder nicht geklärten Fällen ist das Ministerium befugt, Angelegenheiten direkt an die Taliban-Führung weiterzuleiten.[15]
Im August 2024 folgte die Veröffentlichung eines Gesetzes zur Förderung der Tugenden und Verhinderung von Lastern, das aus einer Präambel, vier Abschnitten und insgesamt 35 Artikeln besteht. Artikel 6.1 definiert das Mandat des Ministeriums zur Förderung der Tugenden, Verhinderung von Lastern und Anhörung von Beschwerden.[16] Artikel 23 legt fest: „Ein Vollstrecker ist verpflichtet, Minderheiten, die unter einer islamischen Regierung leben, sowie Asylsuchende daran zu hindern, offene Verfehlungen zu begehen.“[17] Richard Bennett, UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechtssituation in Afghanistan, betonte, dass das Gesetz nicht nur religiöse Pflichten für Musliminnen und Muslime vorschreibe, sondern auch die Ausübung nichtislamischer Religionen erheblich einschränke. So verbietet es unter anderem das Tragen von Kruzifixen und anderen „unislamischen“ Symbolen sowie das Feiern von Anlässen ohne Grundlage im Islam.[18]
Artikel 13.3 des Tugendgesetzes bestimmt darüber hinaus, dass Frauen nicht nur ihren Körper und ihr Gesicht vollständig verhüllen müssen, sondern dass ihre Stimme – etwa beim Singen, beim Vortrag eines Gedichts oder bei einer öffentlichen Rezitation – nicht hörbar sein darf. Dies läuft auf ein faktisches Verbot hinaus, Frauen im öffentlichen Raum sichtbar oder hörbar werden zu lassen.[19]
Seit der Machtübernahme im August 2021 haben die Taliban eine Reihe von Dekreten erlassen, die die Rechte von Frauen massiv einschränken – darunter ihre Bewegungsfreiheit, Kleidervorschriften, die Teilnahme am Sport, den Zugang zu Bildung, Erwerbstätigkeit und Gesundheitsversorgung.[20] Im Mai 2022 wurde das sogenannte Hidschab-Dekret veröffentlicht, das vorschreibt, dass Frauen und Mädchen sich im öffentlichen Raum vollständig bedecken müssen. Besonders in der ersten Jahreshälfte 2024 wurde dieses Dekret verstärkt durch Razzien und intensive Kontrollen durchgesetzt.[21]
Frauen wurden aus weiten Teilen des Arbeitsmarkts ausgeschlossen.[22] Besonders gravierend sind jedoch die Maßnahmen im Bildungsbereich. Im März 2022 erließen die Taliban ein Schulverbot für Mädchen ab der sechsten Klasse. Im Dezember desselben Jahres setzte das Ministerium für Hochschulbildung das Universitätsstudium für Frauen „bis auf Weiteres“ aus.[23] Im Februar 2023 untersagte der afghanische Medizinrat weiblichen Absolventinnen die Teilnahme an den Abschlussprüfungen. Zuletzt erließ der stellvertretende Gesundheitsminister im Dezember 2024 eine mündliche Anordnung, wonach alle medizinischen Bildungseinrichtungen verpflichtet wurden, Frauen und Mädchen vom Studium auszuschließen.[24]
Auch die religiöse Praxis von Frauen unterliegt zunehmenden Einschränkungen. Im April 2023 wies die Abteilung zur Förderung der Tugenden und Verhinderung von Lastern (DPVPV) – eine auf Provinz- und Bezirksebene tätige Vollzugsbehörde unter dem Dach des Tugendministeriums – die Polizei in Kandahar mündlich an, Frauen den Besuch von Friedhöfen und Heiligtümern zu untersagen. Diese Praktiken wurden als „unislamisch“ eingestuft.[25]
Darüber hinaus sind Tausende afghanische Mädchen, denen der Zugang zu regulärer Bildung verwehrt ist, gezwungen, religiöse Schulen (Medressen) als einzige verfügbare Lernmöglichkeit zu nutzen. Aussagen ehemaliger Schülerinnen zufolge beinhalten die Lehrpläne dieser Einrichtungen häufig extremistische Ideologien und legen einen starken Schwerpunkt auf die traditionelle Rolle der Frau im häuslichen Bereich. Mädchen wird beigebracht, wie sie ihre Kinder als heilige Kämpfer (Mudschahedin) erziehen und ihren Ehemännern „dienen“ sollen.[26]
Das Taliban-Bildungsministerium kontrolliert inzwischen mehr als 21.000 religiöse Schulen, darunter auch Dschihad-Schulen – das Vierfache der Zahl unter der Vorgängerregierung und deutlich mehr als die rund 18.000 staatlichen und privaten Schulen.[27] Der rasante Ausbau der Medressen, von denen einige militant-dschihadistische Inhalte propagieren, hat das afghanische Bildungssystem grundlegend verändert. Dies wirft schwerwiegende Fragen im Hinblick auf die langfristige Entwicklung des Landes sowie auf das Risiko einer zunehmenden Radikalisierung auf.[28] Anstelle reiner Bildungsstätten fungieren viele dieser Medressen zunehmend als Zentren der Indoktrination und potenzielle Rekrutierungsorte für extremistische Gruppen.[29]
Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) äußerte sich auch besorgt über die offensichtliche Straffreiheit, mit der die De-facto-Machthaber Menschenrechtsverletzungen begehen. Im Zeitraum vom 1. Oktober bis 31. Dezember 2024 dokumentierte UNAMA Fälle gerichtlicher Körperstrafen, von denen mindestens 194 Personen betroffen waren – darunter 150 Männer, 39 Frauen, vier Jungen und ein Mädchen.[30]
In seinem jüngsten Bericht über Afghanistan vom 21. Februar 2025 betonte UN-Generalsekretär António Guterres die Dringlichkeit, die Anwendung von Körperstrafen umgehend zu beenden. Er äußerte zudem große Besorgnis über den fortgesetzten Einsatz der Todesstrafe – insbesondere in Fällen, in denen die Betroffenen zum Zeitpunkt des mutmaßlichen Vergehens minderjährig waren.[31]
Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden mindestens fünf Personen öffentlich hingerichtet, nachdem sie durch das De-facto-Justizsystem verurteilt und ihre Hinrichtung vom Taliban-Führer persönlich gebilligt worden war.[32]
Auch dokumentierte der Menschenrechtsdienst der UNAMA zahlreiche Fälle von körperlicher Gewalt und religiöser Unterdrückung durch die DPVPV gegenüber Personen, deren Überzeugungen von den Vorgaben der herrschenden Autoritäten abweichen.[33]
Im Mai 2024 veröffentlichte UNAMA einen Bericht zur moralischen Aufsicht der De-facto-Behörden in Afghanistan und deren Auswirkungen auf die Menschenrechte, der im Anhang auch Stellungnahmen des Tugendministeriums enthält. Darin heißt es mit Blick auf religiöse Vorschriften: „Jede Anordnung im islamischen Scharia-System und in der Politik ist nicht ohne Weisheit; Muslime müssen diese befolgen, und die herrschende Regierung hat alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um deren Einhaltung zu gewährleisten.“[34]
Zur Untersagung nicht-islamischer Feste heißt es weiter: „Der Islam ist eine vollständige und allumfassende Religion, die ihren Anhängern in allen Lebensbereichen Anleitung und Vorschriften gibt. Es gibt zwei Feste, die im Islam gefeiert werden dürfen. Es ist ein Verstoß gegen die Freiheit, andere Tage zu begehen; daher kann die Feier solcher Anlässe untersagt werden – ebenso wie die damit verbundenen Handlungen. Dies ist ein anerkanntes rechtliches Prinzip.“[35]
Auch Musik wurde von den Taliban verboten. Der Sprecher der Taliban, Zabiullah Mudschahid, erklärte bereits 2021: „Musik ist im Islam verboten.“[36] Im Januar 2023 bestätigte das Tugendministerium ein Verbot von Gedichten mit musikalischem Versmaß.[37] Am 11. Juni 2023 wurde das Verbot ausgeweitet: Das Abspielen von Musik bei Hochzeiten und anderen Feierlichkeiten wurde untersagt, und Veranstaltungshallen wurden zur Durchsetzung der Regelung angewiesen. Die UNAMA dokumentierte mehrere Fälle von repressiver Durchsetzung, darunter Misshandlungen, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen von Personen, die gegen das Musikverbot verstoßen haben sollen.[38]
Auch die afghanische Medienlandschaft ist massiven Repressionen ausgesetzt. Journalistinnen sehen sich mit willkürlichen Festnahmen, Drohungen und Gewalt konfrontiert. Viele Medienbetriebe mussten schließen oder arbeiten unter strikter Zensur. Das Afghanistan Journalists Center verzeichnete im Jahr 2024 insgesamt 181 Verstöße gegen Medienfreiheiten, darunter die Schließung von 18 Medienhäusern und die Festnahme von 50 Journalisten infolge neuer Einschränkungen.[39]
Im Januar 2025 beantragte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Karim Khan, Haftbefehle gegen den obersten Taliban-Führer Hibatullah Achundsada und den obersten Richter Abdul Hakim Haqqani. Ihnen werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt – insbesondere die systematische Verfolgung von Frauen und Mädchen in Afghanistan.[40]
Vorfälle und Entwicklungen
Nach Angaben der Vereinten Nationen sind von den rund 46 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern Afghanistans mehr als 22,9 Millionen auf humanitäre Hilfe angewiesen.[41]
Obwohl die Zahl ziviler Opfer seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 deutlich zurückgegangen ist, dokumentiert die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) weiterhin ein hohes Maß an zivilem Leid – hauptsächlich verursacht durch gezielte Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen.
Zwischen August 2021 und Mai 2023 verzeichnete die UNAMA 3.774 zivile Opfer, davon 1.095 Tote und 2.679 Verwundete. Wahllose Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen in belebten Gebieten wie Gotteshäusern, Schulen und Märkten forderten die meisten Opfer (2.814, davon 701 Todesopfer und 2.113 Verwundete).[42] Unter den Opfern waren 233 Frauen (92 Tote, 141 Verletzte) und 866 Kinder (287 Tote, 579 Verletzte). Weitere wesentliche Ursachen für zivile Verluste waren Blindgänger und nicht explodierte Kampfmittel (639 Opfer) sowie gezielte Tötungen (148 Betroffene).[43]
In einem Bericht vom August 2024 äußerte sich der UN-Sonderberichterstatter Richard Bennett besorgt über die anhaltenden Verletzungen der Religionsfreiheit und der kulturellen Rechte von Minderheiten durch die Taliban. Konkret nannte er Maßnahmen wie das Verbot religiöser Feiern, die Entfernung schiitischer Bücher aus Bibliotheken und das Verbot, wissenschaftliche Werke ins Usbekische und Türkische zu übersetzen.[44]
Ein Bericht der afghanischen Menschenrechtsorganisation Rawadari dokumentiert die systematische Diskriminierung ethnischer und religiöser Minderheiten durch das Taliban-Regime. Die Organisation weist auf einseitige Praktiken in staatlichen Dienstleistungen, bei der Ressourcenverteilung, der Beschäftigung sowie der Vergabe humanitärer Hilfe hin – mit unverhältnismäßigen Nachteilen für besonders schutzbedürftige Gruppen. Laut dem Bericht sei unter den Taliban die religiöse Vielfalt unterdrückt und die Religionsfreiheit drastisch eingeschränkt worden. In einigen Fällen wurden religiöse Minderheiten zur Konversion gezwungen.[45]
Die Hazara gehören zu den am stärksten verfolgten Minderheiten in Afghanistan – bereits während der ersten Taliban-Herrschaft waren sie Ziel systematischer Gewalt.[46] Nach den Paschtunen und Tadschiken stellen die Hazara, zumeist schiitische Muslime, die drittgrößte ethnische Gruppe des Landes. Auch im Berichtszeitraum wurden sie wiederholt Opfer von Angriffen – sowohl durch die Taliban als auch durch die Terrororganisation DAESH-Khorasan.
Die Gemeinschaft der Hazara ist für DAESH-Khorasan nach wie vor das Hauptziel von Anschlägen gegen religiöse Minderheiten. Trotz territorialer Verluste und der Tötung führender Mitglieder stellt die Organisation weiterhin eine erhebliche Bedrohung für die Sicherheit in Afghanistan dar. Die Gruppe nutzt konfessionelle Spannungen gezielt aus und greift regelmäßig religiöse Minderheiten und andere besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen an.[47]
Im Oktober und November 2023 wurden im Abstand von wenigen Tagen zwei Anschläge auf die schiitische Minderheit der Hazara in Dasht-e-Barchi, einem überwiegend schiitischen Viertel in Kabul, verübt. Beide Angriffe reklamierte DAESH-Khorasan für sich.[48] Der erste Anschlag ereignete sich am 26. Oktober 2023, als eine Explosion in einem Boxclub vier Menschen das Leben kostete.[49] Beim zweiten Angriff, am 7. November 2023, detonierte eine Bombe in einem Kleinbus, der Angehörige der Hazara beförderte. Dabei wurden sieben Menschen getötet und 20 weitere verletzt.[50]
Im Januar 2024 kam es zu zwei weiteren Anschlägen im selben Viertel.[51] Am 6. Januar 2024 wurden bei einer Explosion in einem Kleinbus fünf Menschen getötet und 15 verletzt. Nur wenige Tage später, am 11. Januar 2024, wurden bei einem Granatenangriff vor einem Geschäftszentrum zwei Menschen getötet und zwölf verletzt.[52] Während DAESH-Khorasan die Verantwortung für den ersten Anschlag übernahm, blieb der zweite zwar ohne offizielles Bekennerschreiben, allerdings besteht auch hier der dringende Verdacht, dass der Anschlag ebenfalls auf das Konto der Terrororganisation geht. Der Sprecher der Gruppe, Abu Hudhayfah Al-Ansari, erklärte, diese Angriffe seien Teil einer neuen globalen Kampagne unter dem Titel „Tötet sie, wo immer ihr sie trefft“ – eine Bezugnahme auf einen Vers aus der Sure Al-Baqara.[53]
Zu dieser Kampagne ist auch ein Selbstmordanschlag zu rechnen, der sich am 13. Oktober 2023 in der Imam-Zaman-Moschee in Pul-e-Khumri, der Provinzhauptstadt von Baghlan im Norden Afghanistans ereignete und bei dem sieben Gläubige während des Freitagsgebets getötet wurden[54]. Auch im Falle des Anschlags auf eine schiitische Moschee im Bezirk Guzara der Provinz Herat am 29. April 2024, bei dem sechs Menschen ums Leben kamen, bekannte sich DAESH-Khorasan zu der Tat.[55]
Die Gruppe wird verdächtigt, hinter zwei weiteren Anschlägen im Jahr 2024 zu stehen, zu denen sie sich jedoch nicht bekannt hat. Am 20. April 2024 detonierte eine Bombe in einem Auto im Kabuler Stadtteil Kot-e-Sangi. Dabei wurde der Fahrer getötet, drei weitere Personen wurden verletzt.[56] Ebenfalls am 11. August 2024 explodierte eine Bombe in einem Kleinbus in Dasht-e-Barchi, wobei ein Mensch getötet und elf verletzt wurden.[57]
Für den Angriff vom 12. September 2024 übernahm DAESH-Khorasan hingegen die Verantwortung. Dabei wurden Dorfbewohner aus den Provinzen Ghor und Daikundi in einen Hinterhalt gelockt, als sie Pilger auf dem Rückweg von einer religiösen Reise nach Karbala (Irak) begrüßen wollten. 14 Menschen wurden getötet, sechs verletzt.[58]
Wie bereits in der Vergangenheit bleibt die Hazara-Gemeinschaft auch unter der Herrschaft der Taliban Ziel systematischer Verfolgung. Die Taliban haben eine Vielzahl von Einschränkungen für schiitische Gläubige verhängt. Eine der schwerwiegendsten Formen der Diskriminierung sind Zwangsräumungen.[59] So forderten die Taliban Mitte 2024 Angehörige der Hazara im Stadtteil Nowabad von Ghazni auf, Eigentumsnachweise für ihre Grundstücke vorzulegen. Dieser formale Prozess führte letztlich zu ihrer Vertreibung. Die Behörden erklärten, es handele sich um staatliches Land, das unrechtmäßig besetzt worden sei – obwohl die betroffenen Hazara ihre Grundstücke legal erworben hatten.[60]
Seit der Rückkehr der Taliban an die Macht wurden Hazara systematisch aus Regierungsämtern entfernt. Ihre Rolle im Staatsapparat wurde stark beschnitten, ihr Zugang zu Ressourcen massiv eingeschränkt.[61]
Im Februar 2023 erließen die Taliban-Behörden im Bezirk Nusay der Provinz Badachschan ein Dekret, das Eheschließungen zwischen Schiiten und Sunniten untersagt. Diese Entscheidung wurde mit religiösen und ideologischen Argumenten begründet.[62] Im April 2023 setzten die Behörden das Fest des Fastenbrechens (Eid al-Fitr) für den 21. April an, obwohl dieser Tag nach dem schiitischen Kalender noch zum Ramadan gehörte. In der Provinz Daikundi wurden Angehörige der schiitischen Gemeinschaft an Kontrollpunkten der Polizei zum Fastenbrechen gezwungen. Mindestens 25 Personen wurden verprügelt, weil sie sich weigerten, dieser Anordnung Folge zu leisten.[63]
Im Juli 2023 veröffentlichte der Rat der Schiitischen Gelehrten Afghanistans eine Erklärung, in der Trauernde dazu aufgerufen wurden, ihre Aktivitäten im Monat Muharram – dem ersten Monat des islamischen Kalenders – einzuschränken. Diese Empfehlung war eine Reaktion auf die von den Taliban verhängten Beschränkungen. Vor der Rückkehr der Taliban im August 2021 war es schiitischen Gemeinden möglich gewesen, das Muharram-Fest frei zu begehen und groß angelegte Prozessionen mit religiösen Gesängen und rituellen Handlungen zu veranstalten. Die neuen Einschränkungen stießen auf deutlichen Widerspruch seitens schiitischer Führungsfiguren, die sie als Eingriff in die freie Ausübung ihrer Religion werten.[64]
Im Dezember 2023 wies das Taliban-Ministerium für Hochschulbildung private Universitäten und höhere Bildungseinrichtungen an, Bücher aus ihren Bibliotheken zu entfernen, die „der hanafitischen Rechtsprechung widersprechen, politisch sind oder den Glauben in Frage stellen“. Der Minister für Hochschulbildung, Neda Mohammad Nadim, bekräftigte diese Anweisung mit der Aussage, dass es in „Afghanistan keine Konfessionen“ gebe und das gesamte Land der hanafitischen Rechtsschule folge.[65]
In der Folge wies im Juni 2024 die Bildungsdirektion der Taliban in der Provinz Bamyan die dortigen Schulen an, Bücher zur Jaʿfarī-Rechtslehre aus dem Unterricht zu entfernen. Gleichzeitig kündigte sie an, neue Lehrmaterialien zu entwickeln, die sowohl sunnitische als auch schiitische Traditionen berücksichtigen würden. Bis Januar 2025 wurden solche Lehrbücher jedoch nicht eingeführt.[66]
Auch Sufi-Muslime wurden im Berichtszeitraum wiederholt Opfer von Angriffen. Ihre Gemeinschaft hat in Afghanistan jahrhundertelang eine wichtige spirituelle Rolle gespielt, doch stehen ihre religiösen Ansichten heute in scharfem Gegensatz zu denen der Taliban und von DAESH-Khorasan. Am 22. November 2024 ereignete sich ein tödlicher Anschlag auf das Sayed-Padshah-Agha-Heiligtum im Bezirk Nahrin der Provinz Baghlan. Unbekannte bewaffnete Angreifer eröffneten während einer nächtlichen Zikr-Versammlung (religiöse Andacht) das Feuer auf betende Sufis. Mindestens zehn Menschen kamen ums Leben. DAESH-Khorasan bekannte sich zu dem Anschlag.[67] Zuvor hatte es bereits im Jahr 2022 drei besonders brutale Angriffe auf Sufi-Versammlungen gegeben, bei denen insgesamt über einhundert Menschen getötet oder verletzt wurden.[68]
Ähnlich prekär ist die Lage der Ahmadiyya-Gemeinschaft. Schon unter dem früheren Taliban-Regime waren ihre Angehörigen schweren Repressionen ausgesetzt, da sie den Taliban als blasphemisch gelten und nicht als Muslime anerkannt werden. Vor der Machtübernahme im August 2021 wurde ihre Zahl landesweit auf etwa 450 geschätzt; aktuelle Zahlen liegen nicht vor. Laut Angaben des Ahmadiyya-Pressebüros wurden mehrere Mitglieder von den Taliban inhaftiert. Der Kalif der Ahmadiyya-Gemeinde, Hazrat Mirza Masroor, soll erklärt haben: „Die Ahmadiyya-Muslime in Afghanistan sind extremen Schwierigkeiten ausgesetzt, einige wurden sogar inhaftiert.“[69] In einer weiteren Stellungnahme betonte er: „Extremisten wie die Taliban und andere schaden dem Namen des Islam – und sie stehen bereits unter Gottes Zorn.“[70]
Das Christentum wird in Afghanistan als westliche Religion angesehen, die der afghanischen Gesellschaft fremd ist. Schon vor der Machtübernahme durch die Taliban berichteten Konvertierte von einer feindseligen Stimmung in sozialen Medien und im öffentlichen Diskurs. Unter afghanischen Christen ist es daher schon seit Langem üblich, allein oder in kleinen Gruppen in Privathäusern zu beten.[71] Nach der Machtübernahme sicherten die Taliban zwar öffentlich den Schutz religiöser Minderheiten zu, erwähnten Christen dabei jedoch ausdrücklich nicht. Wörtlich hieß es: „Es gibt keine Christen in Afghanistan. Eine christliche Minderheit ist hier nie bekannt oder offiziell registriert worden.“[72]
Einigen Berichten zufolge haben die Taliban Kopfgelder auf afghanische Christen ausgesetzt und bieten Geldprämien für Personen an, die sie anzeigen. Diese Entwicklung verschärft die ohnehin hochriskante Lage für christliche Gläubige, die gezwungen sind, ihren Glauben vollständig im Verborgenen zu praktizieren.[73] Mit der Machtübernahme der Taliban verlor Afghanistan auch seine einzige katholische Kirche. Der Barnabiten-Pater Giovanni Scalese, Leiter der seit 1921 im Land präsenten Missio sui iuris, musste am 26. August 2021 nach Italien zurückkehren. Scalese, der sieben Jahre lang der einzige katholische Priester in Afghanistan gewesen war, zeigte sich in einem Interview im Mai 2024 frustriert über die mangelnde weltweite Aufmerksamkeit für das Land. Er forderte die internationalen Organisationen auf, ihre Bemühungen um die Unterstützung der Bedürftigen wieder aufzunehmen.[74]
Für afghanische Christen, die in Pakistan Zuflucht gesucht haben, gibt der von der pakistanischen Regierung im Oktober 2023 eingeführte Plan zur Rückführung illegaler Ausländer Anlass zu großer Sorge. Die Maßnahme sieht keine besonderen Schutzregelungen für religiöse Minderheiten vor und richtet sich gezielt gegen ausländische Staatsangehörige ohne gültige Aufenthaltspapiere – mit besonderem Fokus auf afghanische Geflüchtete. Damit sind auch afghanische Christen akut von Abschiebung bedroht.[75]
Bereits im Juli 2023 hatte ein Kurzfilm der Organisation Christian Solidarity Worldwide die prekäre Lage von Hazara-Christen in Pakistan dokumentiert. Diese sehen sich gezwungen, im Verborgenen zu leben, um Abschiebung oder im schlimmsten Fall gewaltsamen Übergriffen bis hin zur Lynchjustiz zu entgehen – allein aufgrund ihres Glaubens.[76]
Am 7. August 2024 traf sich Papst Franziskus mit der Vereinigung der afghanischen Gemeinschaft in Italien. Dabei äußerte er tiefe Trauer über das Leid der afghanischen Bevölkerung und verurteilte die Instrumentalisierung von Religion. Der Glaube, so betonte er, dürfe niemals zur Rechtfertigung von Hass oder Gewalt missbraucht werden.[77]
Nach Angaben zivilgesellschaftlicher Organisationen lebten Ende 2021 noch etwa 150 Angehörige der Sikh- und Hindu-Gemeinschaft in Afghanistan – ein drastischer Rückgang gegenüber rund 400 zu Jahresbeginn und etwa 1.300 im Jahr 2017.[78] Bereits im Jahr 2022 wurde davon ausgegangen, dass sich nur noch etwa 100 Hindus und Sikhs im Land befanden.[79]
Die religiöse Verfolgung dieser Gruppen begann nicht erst mit der Rückkehr der Taliban an die Macht. Schon zuvor waren Sikh-Tempel Ziel tödlicher Anschläge, oftmals verübt von DAESH-Khorasan. So etwa am 25. März 2020, als bei einem Angriff auf ein Gurdwara in Kabul 25 Menschen getötet wurden.[80]
Im Oktober 2023 gab die Stadtverwaltung von Kabul bekannt, dass die Taliban einen offiziellen Vertreter für die Hindu- und Sikh-Gemeinschaften in der Hauptstadt ernannt hätten. Dieser solle insbesondere die Interessen der Gemeinden im Hinblick auf die Rückgabe enteigneter Grundstücke und Immobilien vertreten.[81] Im April 2024 bekräftigte ein Taliban-Sprecher das angebliche Engagement des Regimes zum Schutz der Eigentumsrechte von Hindus und Sikhs.[82]
Trotz dieser öffentlichen Zusicherungen herrscht unter den betroffenen Gemeinschaften weiterhin große Zurückhaltung. Viele Angehörige der Sikh- und Hindu-Gemeinden fürchten eine Rückkehr nach Afghanistan – nicht zuletzt aufgrund ihrer Erfahrungen unter früherer Taliban-Herrschaft. In der Vergangenheit waren sie unter anderem strengen Auflagen hinsichtlich ihrer äußeren Erscheinung unterworfen und durften religiöse Feste nicht öffentlich begehen.[83]
Es leben heute keine Jüdinnen und Juden mehr in Afghanistan. Bereits gegen Ende des 20. Jahrhunderts hatte nahezu die gesamte jüdische Bevölkerung das Land – größtenteils in Richtung Israel – verlassen, vor allem aufgrund der sich zunehmend verschlechternden Sicherheitslage. Nach der erneuten Machtübernahme der Taliban im August 2021 blieb zunächst noch Zebulon Simentov, der als letzter Jude des Landes galt, in Kabul. Im September 2021 verließ jedoch auch er das Land, womit die jahrhundertealte jüdische Präsenz in Afghanistan ihr Ende fand.[84]
Zuverlässige Angaben über die Zahl der Bahai in Afghanistan liegen nicht vor. Die Gemeinschaft lebt weitgehend im Verborgenen, insbesondere seit der Erklärung der Generaldirektion für Fatwas und Finanzen des Obersten Gerichtshofs Afghanistans im Jahr 2007, in der ihr Glaube als blasphemisch und seine Anhänger als Ungläubige eingestuft wurden.[85]
Auch die etwa 2.000 Angehörigen der uigurischen Minderheit gehören zu den besonders gefährdeten Gruppen. Die Taliban pflegen enge Beziehungen zu China, dem nach eigenen Aussagen „wichtigsten Partner“ beim Wiederaufbau des Landes.[86] Die Uiguren müssen damit nicht nur um ihr Leben in Afghanistan fürchten, sondern sind auch von einer Repatriierung und Verfolgung in China bedroht.[87]
Perspektiven für die Religionsfreiheit
In einem Umfeld nahezu vollständiger Isolation und fehlender rechtlicher Schutzmechanismen erfahren ethnische und religiöse Minderheiten in Afghanistan eine doppelte Belastung: einerseits systematische Diskriminierung und Verfolgung durch das Taliban-Regime, andererseits gewaltsame Übergriffe durch die Terrororganisation DAESH-Khorasan.
Die sich verschärfenden Menschenrechtsverletzungen durch die De-facto-Machthaber, wie sie in diesem Bericht – bei weitem nicht vollständig – dokumentiert wurden, zeichnen ein überaus düsteres und alarmierendes Bild hinsichtlich der Lage der Religionsfreiheit im Land.
Die Gräueltaten der Dschihadisten von DAESH-Khorasan haben trotz der Eindämmungsbemühungen durch die Taliban nicht abgenommen. Vielmehr hat sich die Terrorgruppe strategisch neu ausgerichtet: Weg vom Anspruch auf territoriale Kontrolle hin zu urbaner Guerilla-Taktik. Diese Entwicklung geht mit einer dezentralisierten und weniger hierarchischen Struktur einher – mit dem Ziel, die Autorität der Taliban in der Bevölkerung zu untergraben.[88]
Die Kombination dieser Faktoren lässt kaum Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage. Im Gegenteil: Die Perspektiven für die Religionsfreiheit in Afghanistan bleiben äußerst besorgniserregend und in weiten Teilen negativ.
Quellen