Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Die Republik Aserbaidschan ist laut Verfassung ein säkularer, demokratischer Staat. Artikel 18 sieht die Trennung von Staat und Religion vor.[1] Demnach sind alle Religionen vor dem Gesetz gleich, wobei die Verbreitung des Glaubens nicht gegen die Menschenwürde und gegen die Grundsätze des Humanismus verstoßen darf. Zudem sieht dieser Artikel ein säkulares öffentliches Schulsystem vor. Artikel 48 gewährleistet das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit. Jeder hat das Recht, seinen Glauben frei zu wählen, diesen als Einzelperson oder in Gemeinschaft mit anderen zu praktizieren oder keinen Glauben anzunehmen. Das schließt auch das Recht ein, seine religiösen Überzeugungen zu bekunden und zu verbreiten. Des Weiteren ist es Gläubigen nach Artikel 48 gestattet, religiösen Bräuchen nachzugehen, soweit sie nicht gegen die guten Sitten verstoßen oder die öffentliche Ordnung stören. Religiöse Überzeugungen dürfen nicht zur Rechtfertigung eines rechtswidrigen Handelns herangezogen werden. Schließlich besagt dieser Artikel, dass niemand zu einem Glaubensbekenntnis, zur Ausübung eines Glaubens oder zur Teilnahme an einer religiösen Feier gezwungen werden darf. Laut Artikel 25 darf niemand aufgrund seines Glaubens diskriminiert werden.
Gemäß Artikel 85 dürfen „religiöse Amtsträger“ bei Wahlen zur Nationalversammlung nicht kandidieren, wobei der Begriff „religiöse Amtsträger“ nicht näher definiert ist. Sollte ein Abgeordneter „religiöser Amtsträger“ werden, verliert er laut Artikel 89 seinen Sitz in der Nationalversammlung. Artikel 76 der Verfassung verlangt zwar, dass für Personen, die aus Gewissensgründen den Militärdienst verweigern, ein Ersatzdienst vorgesehen wird, aber diese Bestimmung findet keine praktische Anwendung.[2] Die Verfassung verweist mehrfach auf die völkerrechtlichen Verpflichtungen Aserbaidschans, unter anderem auf den Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte[3], der Bestimmungen zur Religionsfreiheit enthält.
Das 2009 erlassene Gesetz über die Glaubensfreiheit gibt die Rahmenbedingungen für die Glaubensausübung in Aserbaidschan vor.[4] Es verlangt, dass sich alle Glaubensgemeinschaften beim Staatlichen Komitee für die Zusammenarbeit mit religiösen Vereinigungen registrieren lassen[5], wobei für die Gründung einer religiösen Vereinigung mindestens 50 Gläubige nachgewiesen werden müssen. Nicht registrierte religiöse Aktivitäten sind untersagt und werden verwaltungsrechtlich geahndet. Es ist streng verboten, ohne Genehmigung in der Öffentlichkeit zu missionieren oder religiöse Schriften zu verteilen. Muslimische Organisationen sind der Verwaltung der Muslime im Kaukasus unterstellt. Nichtmuslimische Organisationen können sich selbst verwalten, sofern sie nicht gegen aserbaidschanisches Recht verstoßen. Die Verwaltung der Muslime im Kaukasus kontrolliert den Inhalt von Predigten und verwaltet diverse Aktivitäten der registrierten islamischen Organisationen.[6] Das Staatliche Komitee ist für die Genehmigung religiöser Schriften zuständig und überwacht die Einhaltung der religiösen Feiertage. Es kann die Absetzung von Imamen anordnen, die gegen die behördlichen Vorgaben verstoßen. Im Allgemeinen schützt das Gesetz registrierte Glaubensgemeinschaften vor staatlicher Einmischung, erlaubt aber ein Eingreifen, wenn ein Extremismusverdacht besteht oder wenn es zu rechtswidrigen Aktivitäten kommt.
Diese äußerst restriktiven Maßnahmen zielen darauf ab, die öffentliche Ordnung, die guten Sitten und die nationale Sicherheit zu wahren. Die Regierung hat einen sehr weit gefassten Begriff von „Extremismus“ und nutzt Extremismusvorwürfe auch als Vorwand, um politische Gegner und Kritiker zum Schweigen zu bringen.[7] Internationale Stellen wie das OSZE-Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte und die Venedig-Kommission des Europarates äußerten sich besorgt über diese Entwicklung.[8]
In ihrem Jahresbericht 2024 stuft die US-Kommission für Internationale Religionsfreiheit Aserbaidschan als besonders gefährdetes Land ein.[9] Im Vorjahr hatte sie das Land erstmals auf die Beobachtungsliste gesetzt.
Vorfälle und aktuelle Entwicklungen
Aserbaidschan steht unter dem autoritären Regime von Präsident Ilham Aliyev, der seit 2003 im Amt ist. Das religiöse Leben im Land wird streng kontrolliert. Glaubensgemeinschaften werden unter Druck gesetzt. Religiöse Aktivisten werden verfolgt und misshandelt.[10]
Nach einem bewaffneten Angriff auf die aserbaidschanische Botschaft in Teheran im Januar 2023 verschärften sich die Spannungen zwischen Aserbaidschan und Iran. Nach Angaben örtlicher Menschenrechtler wurden Hunderte von schiitischen Muslimen festgenommen.[11] Die Behörden warfen mehreren Gefangenen vor, für den Iran spioniert und Sabotageakte oder Putschversuche verübt zu haben. Die Inhaftierten hatten sich offenbar verdächtig gemacht, weil sie schiitische Geistliche im Internet unterstützt, für politische Gefangene Geld gesammelt oder Pilgerreisen in den Iran unternommen hatten.[12] Schließlich wurden die meisten von ihnen wegen angeblicher Drogendelikte angeklagt.[13]
Im Januar 2023 mussten sich mindestens sieben schiitische Muslime vor Gericht verantworten, weil sie ihre Kinder zu einer Feier zu Ehren des Geburtstags von Fatima az-Zahra, der Tochter des Propheten Mohammed, mitgenommen hatten.[14] Vier dieser Personen wurden wegen „rechtswidriger Einbeziehung Minderjähriger in religiöse Feiern“ zu einer Geldstrafe verurteilt.[15]
Die Bewegung für die Einheit der Muslime (Müsəlman Birliyi Hərəkatı – MBH), eine schiitische Gruppe, die sich gegen die staatliche Überwachung der Glaubensausübung in Aserbaidschan stellt, geriet im Berichtszeitraum zunehmend ins Visier der Behörden.[16] Mitglieder wurden festgenommen und sollen Berichten zufolge geschlagen und gefoltert worden sein.[17] Im März 2023 wurde das MBH-Mitglied Mahir Azimov wegen Drogenhandels zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. Azimov behauptete, die Drogen seien ihm von der Polizei untergeschoben worden.[18] Im November verurteilte dasselbe Gericht den Gefangenen Etibar Ismailov wegen ähnlicher Vorwürfe zu einer fast zehnjährigen Haftstrafe.[19] Im Februar 2023 sprach der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte acht MBH-Anhängern eine Entschädigung in Höhe von 64.000 Euro zu. Sie waren im Ort Nardaran von maskierten Sicherheitskräften festgenommen und im Gefängnis misshandelt worden.[20]
Im Juli 2023 wurde der bekannte aserbaidschanische Wirtschaftswissenschaftler Gubad Ibadoghlu, der sich für die Korruptionsbekämpfung einsetzt, festgenommen, weil bei ihm angeblich Falschgeld und „extremistische“ religiöse Schriften entdeckt worden waren. Ibadoghlu, der alle Vorwürfe zurückweist, muss nun mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 17 Jahren rechnen.[21]
Im gesamten Berichtszeitraum wurden Mitglieder der Zeugen Jehovas verfolgt und festgenommen, weil sie sich der Wehrpflicht widersetzten.[22] Im Juni 2023 wies der Oberste Gerichtshof des Landes einen Berufungsantrag des Zeugen Jehovas Seymur Mammadov gegen eine einjährige Bewährungsstrafe zurück. In einem ersten Urteil war er zu einer neunmonatigen Haftstrafe verurteilt worden, weil er den Militärdienst verweigert hatte. Gegen andere Zeugen Jehovas wurden aus demselben Grund Ausreiseverbote verhängt.[23]
Die Nichtregierungsorganisation Union for the Freedom for Political Prisoners of Azerbaijan identifizierte 183 „friedliche Gläubige“, die Ende des Jahres 2023 in Aserbaidschan wegen ihrer religiösen Überzeugungen oder ihrer Glaubensausübung zu Unrecht im Gefängnis saßen.[24] Das waren deutlich mehr als im Vorjahr.[25] Die meisten von ihnen wurden nach dem Anschlag im Iran festgenommen. Bis Ende 2024 stieg die Zahl noch einmal erheblich an. Zu diesem Zeitpunkt zählte die Organisation 233 inhaftierte Gläubige, die ihrer Ansicht nach widerrechtlich festgehalten wurden.[26] Bei der großen Mehrheit der als „Gläubige“ bezeichneten Personen handelt es sich um muslimische religiöse Aktivisten.
Nach Aussagen von lokalen Experten und Vertretern der Glaubensgemeinschaften zeigt sich die aserbaidschanische Gesellschaft gegenüber den traditionellen religiösen Minderheiten wie Katholiken, Juden und russisch-orthodoxen Christen nach wie vor tolerant. Neueren Glaubensgemeinschaften wie den Baptisten und den Zeugen Jehovas begegnet man dagegen mit Argwohn.[27]
Im Juli 2023 reiste der Kardinalstaatssekretär des Heiligen Stuhls, Pietro Parolin, auf Einladung von Präsident Aliyev nach Baku. Bei seinen Gesprächen mit hochrangigen Regierungsvertretern ging es im Wesentlichen um die Pflege der guten Beziehungen zwischen Aserbaidschan und dem Heiligen Stuhl.[28] 2024 war Kardinal Parolin als Teilnehmer der Weltklimakonferenz COP29 erneut zu Besuch in Baku.[29] Auf der offiziellen Website des Präsidenten war zu lesen, dass Kardinal Parolin seinen Dank für den Bau der zweiten katholischen Kirche im Land zum Ausdruck gebracht hat und dass der Präsident und der Kardinal die aktuellen Beziehungen zwischen Vatikan und Aserbaidschan in ihrem Gespräch positiv bewertet haben.[30]
Ein Ereignis von großer Tragweite war im Berichtszeitraum die vollständige Einnahme der Gebirgsregion Bergkarabach, die auch unter dem armenischen Namen Arzach bekannt ist. Aserbaidschan und Armenien standen von 1988 bis 1994 miteinander im Krieg. Im Jahr 1991 erklärten die Armenier in Bergkarabach ihre Unabhängigkeit, die international aber nie anerkannt wurde.
Die nun erfolgte vollständige Einnahme der Region durch Aserbaidschan hat Auswirkungen auf die Religionsfreiheit, weil das Gebiet vorwiegend von armenischen Christen bewohnt war. Im Dezember 2022 errichtete Aserbaidschan eine Blockade, um Bergkarabach zu isolieren, und verschärfte diese im August 2023.[31] Im September 2023 brachte Aserbaidschan die Region vollständig unter seine Kontrolle. Schätzungsweise 120.000 ethnische Armenier mussten das Gebiet verlassen.[32]
Bei dem Angriff im September 2023 zerstörten aserbaidschanische Soldaten das mit 50 Metern zweithöchste Metallkreuz Europas.[33] Es stand in Stepanakert, der Hauptstadt von Bergkarabach, die dann von Aserbaidschan in Chankendi umbenannt wurde. Zur gleichen Zeit kursierte in den sozialen Medien ein Video, in dem zu sehen ist, wie ein aserbaidschanischer Soldat das aus dem 13. Jahrhundert stammende Kloster Charektar beschießt.[34] Die Authentizität des Videos wurde später von der Organisation Bellingcat[35] und von Open Source Intelligence Analysten bestätigt.[36]
Nach der Eroberung von Bergkarabach und der Vertreibung der christlichen Bevölkerung sind die religiösen Denkmäler und Kultstätten der Region bedroht.[37] Das Ausmaß der Zerstörung wird im Rahmen des Projekts Caucasus Heritage Watch der Cornell University in den Vereinigten Staaten dokumentiert.[38] Im November 2023 wurden die historische Kirche der Heiligen Mutter Gottes[39] und zwei Friedhöfe in Schuscha zerstört.[40] Im April 2024 zeigten Satellitenbilder, dass die Kirche St. Johannes Baptist in Schuscha, die einst ein markantes Wahrzeichen der Stadt war, vollständig zerstört wurde.[41] Im Mai 2024 wurde festgestellt, dass auch die Himmelfahrtskirche in Berdzor/Latschin dem Erdboden gleich gemacht worden war.[42] Angeblich ist der Bau einer Moschee in der Stadt geplant, die mehreren Quellen zufolge auf dem Gelände der zerstörten Kirche errichtet werden soll.[43]
Im Mai 2023 forderte der Vorsitzende des Staatlichen Komitees für die Zusammenarbeit mit religiösen Vereinigungen, Mubariz Gurbanli, dass die armenischen Ordensleute das Kloster Dadiwank verlassen sollen, weil sie mit dem Ort angeblich nicht verwurzelt sind, obwohl die Geschichte des Klosters bis ins neunte Jahrhundert zurückreicht.[44]
Im November 2024 fand in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku die 29. Weltklimakonferenz (COP29) statt, die das Gastgeberland im Hinblick auf seine außenpolitischen Ziele unter das Motto „Frieden“ stellte. Die Weltweite Evangelische Allianz (WEA), der Ökumenische Rat der Kirchen, Christian Solidarity International (CSI) und andere internationale Organisationen gaben eine gemeinsame Erklärung heraus, in der sie anprangerten, dass Aserbaidschan den Klimagipfel benutzte, um vom Umgang mit den armenischen Christen in Bergkarabach abzulenken. Die Unterzeichner verurteilten die Vertreibung der armenischen Bevölkerung und die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen, und sie forderten die Freilassung von 23 Zivilisten, Soldaten und Politikern, die seit der Einnahme von Bergkarabach festgehalten werden.[45]
Perspektiven für die Religionsfreiheit
Religiöse Angelegenheiten sind in Aserbaidschan ein komplexes Thema. Während man traditionellen religiösen Minderheiten wie Katholiken, Juden und russisch-orthodoxen Christen mit Toleranz begegnet und ihnen weitgehend Glaubensfreiheit gewährt, werden andere Glaubensgemeinschaften massiv verfolgt. Dazu zählen unabhängige schiitische Gemeinschaften, salafistische Muslime, Anhänger der Bewegung für die Einheit der Muslime und die Zeugen Jehovas.
Unter der Herrschaft von Präsident Ilham Aliev unterstützt Aserbaidschan eine zentral kontrollierte Form des Islams, die der strengen Aufsicht der Verwaltung der Muslime im Kaukasus untersteht. Anhänger unliebsamer Glaubensrichtungen werden konsequent verfolgt und drangsaliert.
Ein Ereignis von großer Tragweite war im Berichtszeitraum die vollständige Einnahme Bergkarabachs, in deren Folge die ethnischen Armenier aus der Region vertrieben wurden und zahlreiche religiöse Denkmäler und Kultstätten zerstört wurden.
Daher wird es die Religionsfreiheit in Aserbaidschan wohl auch weiterhin schwer haben.
Quellen