INDIEN
Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Die Verfassung[1] der Republik Indien sichert jedem Bürger Religionsfreiheit zu. Durch eine besondere Form der Trennung von Religion und Staat strebt das Land die Gleichbehandlung aller Glaubensrichtungen an. Dieses Bestreben rückte jedoch in den Hintergrund, als Premierminister Narendra Modi und seine Bharatiya Janata Party (BJP) 2014 an die Macht kamen.
Die indische Bevölkerung gehört über 2.000 verschiedenen ethnischen Gruppen an, stammt aus über 3.000 verschiedenen Gruppierungen im Kasten-System, gehört mindestens sechs verschiedenen Religionen an, und spricht mehr als 122 verschiedene Sprachen.[2] Entsprechend blickt Indien auf eine lange Geschichte interreligiöser Konflikte zurück. Diese gehen bis auf die Zeit vor der Kolonialisierung des Landes zurück: Die Kriege zwischen dem muslimischen Mogulreich und den hinduistischen Marathas waren ebenso religiös wie politisch geprägt.[3] Im Rahmen der Unabhängigkeitsbewegung, die 1947 in der Teilung des Landes in die beiden unabhängigen Staaten Indien und Pakistan mündete, entstanden hinduistisch-nationalistische Organisationen, die einen starken politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Einfluss ausübten. Seit der Wahl Modis haben diese kollektiv als Sangh Parivar (Familienorganisation oder Familienverband) bezeichneten Gruppierungen, die z.B. Organisationen wie die Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS, Nationale Freiwilligenorganisation) umfassen, drastisch an Einfluss gewonnen. Mitglieder diverser Sangh Parivar-Organisationen besetzen heute Führungspositionen in Regierung, Militär und Wissenschaft.
Gemäß Artikel 25 der Verfassung hat jeder Bürger gleichermaßen das Recht auf Gewissensfreiheit und das Recht, seinen Glauben frei zu bekennen, auszuüben und zu verkünden. Des Weiteren heißt es in Artikel 27, dass niemand zur Zahlung von Steuern gezwungen werden darf, die für die Förderung oder Finanzierung einer bestimmten Glaubensrichtung bestimmt sind. Laut Artikel 26 hat jede Glaubensrichtung das Recht, für religiöse und wohltätige Zwecke Einrichtungen zu gründen und zu betreiben und in Bezug auf den Glauben ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln. Darüber hinaus haben Minderheiten, unter anderem auch religiöse Minderheiten, gemäß Artikel 30 das Recht, eigene Bildungseinrichtungen zu gründen und zu betreiben.
Trotz der verfassungsmäßigen Trennung von Staat und Religion haben schon mehrere Regierungen auf nationaler und bundesstaatlicher Ebene Gesetze eingeführt, die die Religionsfreiheit von Einzelpersonen und Gruppen beschränken. So sieht beispielsweise der Places of Worship Act (das Kultstättengesetz) von 1991 vor, dass die religiöse Identität eines Ortes gewahrt werden soll; um Streitigkeiten zu vermeiden, gilt hierbei die religiöse Identität der Kultstätte im Jahr 1947. Im Dezember 2024 brachten hinduistische Interessengruppen mehrere Petitionen mit dem Anliegen vor, muslimische Einrichtungen vermessen zu lassen, um festzustellen, ob diese auf dem Gelände ehemaliger Hindu-Tempel stehen. Nachdem Polizisten in Uttar Pradesh fünf muslimische Männer getötet hatten, die gegen eine gerichtlich genehmigte Vermessungsmaßnahme der Shahi-Jama-Masjid-Moschee nach dem Kultstättengesetz in der Stadt Sambhal protestiert hatten, wurde das Gesetz vor dem Supreme Court (Obersten Gerichtshof) Indiens überprüft.[4] Am 12. Dezember 2024 verbot der Gerichtshof daraufhin Klagen vor Zivilgerichten, die das Eigentum und die Rechte an Kultstätten in Frage stellen, sowie Vermessungsmaßnahmen an besagten Grundstücken.[5]
Im November 2024 gab das Innenministerium bekannt, dass jeder Nichtregierungsorganisation (NRO), die Mittel aus dem Ausland annimmt und dadurch die soziale oder religiöse Harmonie stört, „die Genehmigung zur Annahme von Zuwendungen aus dem Ausland unter dem Foreign Contribution Regulation Act (FCRA, Gesetz zur Regulierung ausländischer Zuwendungen) entzogen“ würde. Dadurch sind die betroffenen NRO‘s faktisch nicht in der Lage, Mittel aus dem Ausland zuvereinnahmen; viele mussten ihre Aktivitäten bereits einstellen. Im Jahr 2024 gab es nur 15.947 FCRA-Genehmigungen zur Annahme von Mitteln aus dem Ausland; 35.488 Genehmigungen zur Annahme von Zuwendungen wurden entweder entzogen oder nicht erneuert.[6]
Seit 2014 frieren indische Behörden unter Berufung auf das Gesetz zur Regulierung ausländischer Zuwendungen von 2010 immer häufiger die Bankkonten verschiedener Organisationen ein. Viele Beobachter sind der Ansicht, dass die aktuelle Regierung das Gesetz selektiv auf Nichtregierungsorganisationen anwendet, die von Minderheitsreligionen betrieben werden, wie etwa die die christlichen Hilfswerke und Entwicklungsorganisationen.[7] Im Januar 2024 wurde z.B. World Vision die FCRA-Lizenz entzogen, nachdem sie zuvor drei Jahre lang ausgesetzt gewesen war. World Vision darf folglich in Indien keine ausländischen Mittel mehr annehmen. Dies wird die humanitäre und Entwicklungsarbeit von World Vision stark einschränken.[8]
Die staatlichen Eingriffe in die Verwaltung kirchlicher Einrichtungen, sowohl in die Einrichtungen der Mehrheitsreligion als auch der übrigen Religionsgemeinschaften, wirkt sich schon jetzt auf die Religionsfreiheit aus. So wird seit der Unabhängigkeit des Landes z.B. eine riesige Zahl von Hindu-Tempeln von staatlichen oder bundesstaatlichen Einrichtungen verwaltet; laut Artikel 25 Abs. 2 der Verfassung darf der Staat Gesetze verabschieden, die religiöse Aktivitäten regeln und sicherstellen, dass hinduistische Einrichtungen allen Hindus gleichermaßen offenstehen.[9] Im September 2024 forderte die große hinduistisch-nationalistische Organisation Vishwa Hindu Parishad (VHP, Welt-Hindu-Rat) die regierende Partei Bharatiya Janata Party (BJP) dazu auf, die „Hindu-Tempel von der staatlichen Kontrolle zu befreien“. Die Forderung wurde laut, nachdem der Regierungschef des Bundesstaats Andhra Pradesh die Vorgängerregierung bezichtigt hatte, in einem der größten Tempel Indiens die Verwendung von Tierfetten zur Herstellung von Tempelspeisen gestattet zu haben.[10]
Der High Court (das Hohe Gericht) von Tamil Nadu entschied 2024, dass Bildungseinrichtungen von Minderheitsreligionen – also zum Beispiel christliche und muslimische Schulen und Oberschulen – ihren Bewerbungsprozess für Personal so gestalten müssen, dass sich Menschen aller Religionen bewerben können, insbesondere, wenn die Einrichtung staatliche Unterstützung erhält. Das Gericht reagierte damit auf einen Fall in der katholischen Diözese von Tirunelveli, in der Bewerber aufgrund ihres Dienstalters in der Diözese ausgewählt wurden. Das Gericht erklärte, dass es von Artikel 226 der Verfassung Gebrauch machen und gegebenenfalls gerichtlich überprüfen lassen würde, ob die Rechte passender Bewerber verletzt worden seien.[11] Ebenfalls forderten oberste Landesgerichte im Jahr 2024 die Einrichtung eines staatlichen Organs in Tamil Nadu, das die Immobilien und Bewerbungsverfahren christlicher Einrichtungen verwalten solle.[12]
Es gab aber auch positive Entwicklungen. So bestätigte der Supreme Court (Oberster Gerichtshof von Indien) den Madrasa Education Act des Bundeslands Uttar Pradesh von 2004. Das Gesetz stellt sicher, dass die Medresen (islamischen Schulen) die erforderlichen Bildungsstandards erfüllen und zugleich ihr religiöser Charakter gewahrt bleibt. Das Gesetz war in vorheriger Instanz vom Hohen Gericht von Allahabad aufgehoben worden. Das Landgericht hatte in seiner Urteilsbegründung erklärt, dass die Medresen „den Islam für Schüler zum Pflichtfach machten,“ aber bestimmte moderne Fächer Wahlfächer seien. Es beschied, dass der Staat nicht „diskriminieren“ dürfe, indem er ein auf Religion basierendes Bildungsangebot zulasse.[13] Der Oberste Gerichtshof bestimmte jedoch, dass Minderheiten laut Artikel 30 der Verfassung das Recht haben, Einrichtungen zu gründen und betreiben, die sowohl religiöse als auch weltliche Bildungsinhalte anbieten. Darüber hinaus sei es Bildungseinrichtungen, die zwar aus Stiftungsmitteln gegründet, aber mit staatlichen Mitteln betrieben würden, laut Artikel 28 nicht verboten, Religionsunterricht anzubieten.[14]
Ebenfalls 2024 verabschiedete das Parlament den Waqf Amendment Act, ein Gesetz über die Schenkung von Grundstücken und Immobilien an eine Waqf. Eine Waqf ist eine der Stiftung vergleichbare Einrichtung nach islamischem Recht. Das Gesetz gestattet die Berufung von Nicht-Muslimen in die Leitung der Stiftung und sogar, dass sie die Mehrheit der vorgeschriebenen elf Mitglieder stellen. Muslime zeigten sich besorgt darüber, dass dadurch Nicht-Muslime über die Zukunft des Stiftungsvermögens entscheiden könnten. Ähnliche Bedenken wurden bezüglich der Zusammensetzung von Gremien geäußert, die das Stiftungsvermögen von Hindu- oder Sikh-Stiftungen verwalten.[15] Gegner des Gesetzes geben an, dass es die in Artikel 26 der Verfassung festgeschriebene Religionsfreiheit der jeweiligen Einrichtungen verletzt.
Im März 2024 erließ die Regierung Umsetzungsbestimmungen für den Citizenship Amendment Act von 2019 (CAA, Gesetz über die Änderung der Staatsbürgerschaft). Das Gesetz dient der erleichterten Einbürgerung von Flüchtlingen, die als Angehörige einer Minderheitsreligion vor religiöser Verfolgung nach Indien fliehen; in der bisherigen Umsetzung führte es jedoch zu Diskriminierung gegen Tamilen aus Sri Lanka, Flüchtlinge aus Bhutan oder Angehörige muslimischer Gruppen, wie z.B. Rohingya, Hazaras, Schiiten und Ahmadiyyas. Dieser Personenkreis ist von der erleichterten Einbürgerung ausgeschlossen; für Hindus, Sikhs, Buddhisten, Jainas, Parsen und Christen, die vor 2014 aus Afghanistan, Bangladesh und Pakistan geflohen sind, erleichtert es hingegen die Einbürgerung. Für Angehörige dieser religiösen Gruppen, die in Stammesgebieten wie Mizoram leben, wurden jedoch ebenso keine Erleichterungen geschaffen. Kritiker betrachten das Gesetz als eine „Waffe, die gegen die muslimische Minderheit in Indien eingesetzt werden kann.“[16] Die neuen Regelungen des Citizenship Amendment Act ermöglichen es der Regierung außerdem, im Ausland lebenden Indern ihren staatsbürgerschaftsähnlichen Status (Overseas Citizenship of India) zu entziehen, wenn diese gegen das Gesetz verstoßen oder an Protesten teilnehmen.[17]
Auch die Einführung von Gesetzen gegen die Konvertierung setzte sich fort, wodurch die Religionsfreiheit in der Gesellschaft weiter eingeschränkt wird. Mehrere Bundesstaaten haben sogenannte „Religionsfreiheitsgesetze“ verabschiedet (die von ihren Kritikern als „Anti-Konvertierungsgesetze“ bezeichnet werden). Sie sollen dazu dienen, vermeintlich durch Zwang oder falsche Versprechen herbeigeführte Konvertierungen einzuschränken.
So bestätigte im Dezember 2024 das Kabinett des im Nordwesten gelegenen Bundesstaates Rajasthan einen Gesetzesentwurf, der gesetzeswidrige Bekehrungen verbietet (Prohibition of Unlawful Conversion of Religion Bill).[18] Die Legislative Assembly (das Unterhaus des Landesparlaments) verabschiedete das Gesetz im Februar 2025.[19] Damit ist Rajasthan das zwölfte Bundesland, in dem ein Anti-Konvertierungsgesetz gilt, ebenso wie bereits in Arunachal Pradesh, Chhattisgarh, Gujarat, Haryana, Himachal Pradesh, Jharkhand, Karnataka, Madhya Pradesh, Odisha, Uttarakhand und Uttar Pradesh.[20]
Dass es hierbei nicht um Religionsfreiheit geht, ist daraus ersichtlich, dass diese Gesetze selten (oder nie) dazu herangezogen werden, um Bekehrungen zum Hinduismus zu untersuchen oder zu ahnden – selbst dann nicht, als die Sangh Parivar dafür kritisiert wurde, dass sie um Geldspenden für die „Rekonvertierung“ zum Hinduismus warb.[21] Tatsächlich werden die Gesetze insbesondere zum Nachteil von Minderheitsreligionen ausgelegt. So beschied beispielsweise der Supreme Court im Jahr 2015, dass jemand, der vom Christentum zum Hinduismus „zurück konvertiert“, Anrecht auf bestimmte Privilegien hat, die der Person durch den Übertritt zunächst entzogen worden waren. Rekonvertiten haben ein Anrecht auf dieses Privileg, wenn ihre Vorväter einer eingetragenen Kaste angehörten und die Gemeinschaft sie wieder aufnimmt.
Anti-Konvertierungsgesetze werden häufig auf das Betreiben hinduistisch-nationalistischer Gruppen erlassen, die befürchten, dass die hinduistische Prägung Indiens durch die zunehmende Anhängerschaft anderer Glaubensrichtung in Gefahr sei. Muslime und Christen sind besonders betroffen, da beide Glaubensgemeinschaften missionarisch aktiv sind. Das Bekehrungsverbot eröffnet örtlichen Behörden und hinduistischen rassistischen Organisationen die Möglichkeit, Mitglieder kleinerer Glaubensgemeinschaften zu schikanieren und einzuschüchtern.[22]
Im Bundesstaat Uttar Pradesh wurde 2024 eine Änderung des Anti-Konvertierungsgesetzes verabschiedet, die jeden berechtigt, Einzelpersonen oder Gruppen wegen gesetzeswidriger Bekehrung anzuzeigen. Bis dahin konnten nur enge Verwandte von Minderjährigen, Frauen oder Menschen, die als „widerrechtlich konvertiert“ galten, Anzeige erstatten. Kritiker befürchten, dass die neue Bestimmung dem Missbrauch Tür und Tor öffnet. Das Gesetz beruht auf einer früheren Fassung aus dem Jahr 2021, die den sogenannten Love Jihad (wörtlich: Liebesdschihad) eindämmen sollte. Beim Love Jihad handelt es sich um eine islamfeindliche Verschwörungstheorie, die von hinduistisch-nationalistischen Gruppen verbreitet wurde, die den Hinduismus als beherrschende Kultur durchsetzen wollen. Laut der Theorie würden muslimische Männer hinduistische Frauen zur Heirat verführen, um sie dann zum Islam zu bekehren.[23] Laut der Gesetzesänderung kann nun jeder, der durch Drohung, Verschwörung oder Versprechen eine Ehe herbeiführt, um den Partner zu konvertieren, mit einer lebenslangen Haftstrafe belegt werden. Verdächtige können außerdem nicht gegen Kaution aus der Haft entlassen werden. Um mit einer Eheschließung zu einem anderen Glauben übertreten zu können, müssen Heiratswillige mindestens zwei Monate vor Eheschließung der zuständigen Behörde eine eidesstattliche Erklärung vorlegen. Uttar Pradesh ist der erste Bundesstaat, der eine gesetzliche Regelung gegen den Übertritt zu einem anderen Glauben durch Heirat erlassen hat.[24]
Das indische Strafgesetzbuch[25] umfasst auch einen Blasphemie-Paragrafen. Paragraf 295A stellt die Beleidigung religiöser Gefühle unter Strafe, wenn dies „vorsätzlich und in böser Absicht“ geschieht. Die Gesetzesvorschrift wurde bereits gegen indische und ausländische Christen eingesetzt, die angeblich im Rahmen ihrer Evangelisationsbemühungen den Hinduismus kritisierten.[26]
Im Dezember 2023 verabschiedete das Parlament ein neues Telekommunikationsgesetz, das dem Staat erweiterte Befugnisse zur Sperrung des Internets einräumte. In Indien wird das Internet weit häufiger als in jedem anderen demokratischen Land der Welt gesperrt.[27] Bereits im April 2023 waren neue gesetzliche Regelungen zum Umgang mit Informationstechnologie eingeführt worden, die nach Ansicht von Kritikern die Möglichkeiten zur digitalen Verschlüsselung einschränken, so dass die freie Meinungsäußerung im Netz und somit die Demokratie und persönliche Freiheit eingeschränkt werden.[28]
Im Februar 2024 trat im Bundesstaat Uttarakhand der Uniform Civil Code (UCC) in Kraft, eine Maßnahme zur Vereinheitlichung der gesetzlichen Vorgaben zu Eheschließung, Scheidung, Adoption und zum Erbrecht in allen Gemeinschaften im Lande, unabhängig von der Religionszugehörigkeit. Das Gesetz verlangt von Paaren, die zusammenleben, dass sie die Lebensgemeinschaft innerhalb eines Monats anmelden müssen. Bei Zuwiderhandlung drohen bis zu drei Monate Haft. Das Gesetz wurde als Schritt zu mehr rechtlicher und sozialer Gleichbehandlung dargestellt, doch muslimische Meinungsführer kritisierten, dass es den religiösen Pluralismus im Lande unterlaufe, da es im Islam übliche Praktiken wie Polygamie oder Scheidung ausklammere. Die Kritiker äußerten sich besorgt darüber, dass so die verfassungsrechtlich geschützte religiöse Vielfalt ausgehöhlt werde.[29]
Im Dezember 2024 verabschiedete das Parlament drei neue Strafgesetze, die u.a. die bis dahin bestehende indische Strafprozessordnung und das Beweismittelgesetz ersetzen sollten. Letztere gingen beide noch auf die Zeit der britischen Herrschaft vor 1947 zurück. Anwälte und Aktivisten bemängeln die Missbrauchsanfälligkeit der neuen Bestimmungen – wie z.B. die Verlängerung der Dauer des Polizeigewahrsams von 15 auf 60 oder, in besonderen Fällen, sogar auf 90 Tage.[30] Eine weitere Neuerung, die auch verwendet werden könnte, um abweichende Meinungen zu unterdrücken und staatliche Repressalien zu verstärken, ist die Zulassung elektronischer Datensätze als Beweismittel, wie z.B. SMS-Nachrichten oder Facebook-Posts. Das dritte, Bharatiya Nyaya Sanhita (BNS) genannte Gesetz, das das alte Volksverhetzungsgesetz ersetzt, enthält eine neue Bestimmung, die Handlungen unter Strafe stellt, die „die Souveränität, Einheit und Integrität Indiens“ gefährden.[31] Kritiker des Gesetzes befürchten, dass diese sehr weit gefasste Bestimmung ebenfalls dazu verwendet werden könnte, Regierungskritik zu unterdrücken und Menschen daran zu hindern, ihr Recht auf Protest auszuüben.
Vorkommnisse und aktuelle Entwicklungen
Auch im Berichtszeitraum setzte sich die Gewalt gegen religiöse Minderheiten in verschiedenen Teilen Indiens weiter fort. Die häufigste und besonders destruktive Form der Gewalt waren gewalttätige Ausschreitungen. Im Jahr 2023 wurden 32 Ausschreitungen verzeichnet, 21 Menschen kamen bei Lynchmorden durch Menschenmengen zu Tode. Elf der 32 Ausschreitungen fanden im Bundesstaat Maharashtra statt. Dabei waren 15 Todesopfer zu beklagen (vier davon Hindus, fünf Muslime); bei anderen Ausschreitungen kamen weitere 16 Menschen ums Leben (alle Muslime).[32] Der häufigste Auslöser für gewalttätige Ausschreitungen war die Anschuldigung, Kühe getötet zu haben. 2023 wurden insgesamt 33 Fälle von Hassrede verzeichnet, wobei diese Zahl die Fälle von Hassrede in bestimmten landessprachlichen Medien außer Acht lässt. Die Zahl der Unruhen nahm 2024 um 84% zu: Insgesamt wurden 59 Ausschreitugen erfasst. Die meisten davon entbrannten während religiöser Festivitäten oder Prozessionen.[33] Im März 2023 änderte eine von der hinduistisch-nationalistischen Organisation Vishwa Hindu Parishad (VHP, Welt-Hindu-Rat) angeführte Prozession ihre Route und zog an einer Moschee und einem muslimischen Schrein vorbei. Die Teilnehmer der Prozession verwüsteten den Schrein, während mehrere Teilnehmergruppen durch den muslimischen Teil der Stadt zogen. Daraufhin kam es zu Aufständen und vielen Verhaftungen, hauptsächlich von Muslimen.[34]
Im Vorfeld der Parlamentswahlen im April und Mai 2024 kam es zu einer besonders hohen Zahl von Ausschreitungen gegen Muslime und Christen. Premierminister Narendra Modi bediente sich in seiner Wahlkampagne einer muslimfeindlichen Rhetorik und bezeichnete Muslime unter anderem als „Infiltratoren“.[35] Er behauptete, dass die Oppositionsparteien beabsichtigten, den Dalits, Adivasis und anderen nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen Mittel zu entziehen und diese den Muslimen zukommen lassen wollten. Der indische Wahlausschuss musste die Plattform X bitten, ein islamfeindliches Video, dass die BJP erstellt hatte, von der Plattform zu nehmen, da es zu einer Intensivierung des Konflikts führte.[36]
Nach der mit Spannung erwarteten Einweihung des Ram-Tempels in Ayodhya im Januar 2024 stieg die Anzahl der Angriffe auf Anhänger von Minderheitsreligionen an.[37] Im Bundesstaat Maharashtra kam es zum Beispiel zu einem Ausbruch der Gewalt auf der Mira Road in äußersten Norden von Mumbai: Eine hinduistische Prozession wurde angeblich angegriffen, woraufhin viele Geschäfte, die in muslimischer Hand waren, niedergebrannt und viele junge Muslime verhaftet oder angegriffen wurden. Weniger als 48 Stunden nach dem Ausbruch der Gewalt machten die örtlichen Behörden Gebäude muslimischer Besitzer dem Erdboden gleich, da diese angeblich „illegal erbaut“ worden seien[38]. Der Vorfall ist beispielhaft für die zunehmende „Rechtsprechung per Bulldozer“: Staatliche Behörden haben schon in der Vergangenheit Bulldozer eingesetzt, um in muslimischer Hand befindliche Immobilien zu zerstören. Im Februar 2024 demolierte die Delhi Development Authority (Stadtentwicklungsbehörde von Delhi) die 600 Jahre alte Moschee von Akhoondiji mit der Begründung, dass sie die Eigentümerin des Grundstücks sei.[39]
Im Berichtszeitraum ereigneten sich eine Vielzahl tätlicher Angriffe auf Muslime durch Hindus. Die Täter instrumentalisieren die Heiligkeit von Rindern, und reagieren mit Gewalt auf den Verdacht des Schmuggels oder der Schlachtung von Rindern oder des Verzehrs von Rindfleisch. Einer der schockierendsten Vorfälle ereignete sich im August 2024, als ein 72-jähriger Mann in einem Zug in Mumbai angegriffen wurde, weil man ihn verdächtigte, Rindfleisch mit sich zu führen.[40] Einen Monat später verfolgten und erschossen eine Gruppe sogenannter „Kuh-Schützer“ einen jungen Hindu, den sie für einen muslimischen Rinderschmuggler hielten.
In der ersten Hälfte des Jahres 2023 kam es in 23 Bundesstaaten zu Gewalt gegen Christen.[41] Christen werden hauptsächlich wegen des Vorwurfs der erzwungenen Konvertierung angegriffen. Das Christentum hat in Indien in verschiedenen Bevölkerungsgruppen regen Zulauf erfahren, besonders in ländlichen Stammesgemeinschaften. Die wachsende Zahl der Übertritte zum Christentum rief hinduistische Extremisten auf den Plan. Sie initiierten Kampagnen zur „Rekonvertierung“ der Christen und verübten Angriffe auf christliche Gotteshäuser, häufig mit dem stillen Einverständnis der örtlichen Behörden. Kritische Stimmen merken an, dass die Polizei die Übergriffe entweder herunterspielt oder gänzlich ignoriert. Laut Angaben des United Christian Forum, einem Zusammenschluss christlicher Organisationen in Indien, hat die Anzahl der Angriffe auf Christen von 127 Fällen im Jahr 2014 auf 834 Fälle im Jahr 2024 zugenommen. In Uttar Pradesh, dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat, ereigneten sich die meisten Fälle (209), gefolgt von Chhattisgarh mit 165 Fällen.[42]
Die schiere Anzahl der Übergriffe macht es unmöglich, sie alle einzeln aufzulisten, daher werden hier nur einige repräsentative Vorkommnisse aufgezählt:
Im Januar 2023 wurde ein Paar aus Kerala beschuldigt und später auch zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt, weil sie angeblich hinduistische Dalits (Mitglieder der Kaste der Unberührbaren) in Uttar Pradesh zum Übertritt zum Christentum verleitet hätten. Dabei hatte sich kein Dalit über das Paar beschwert; sie hatten vielmehr angegeben, dass das Paar sie ermutigt habe, sich fortzubilden und dem Alkohol zu entsagen.[43]
Im Mai 2023 eskalierten ethno-religiöse Spannungen zwischen dem überwiegend hinduistischen Meitei-Stamm und den christlichen Stämmen der Kuki-Zo und Naga nachdem die Meiteis sich darum bemüht hatten, als Scheduled Tribe (eingetragene Stammesgemeinschaft) gelistet zu werden. Die Eintragung als gelistete Stammesgemeinschaft hätte Ihnen Rechte an dem Land der christlichen Stämme verliehen. Bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen wurden hunderte Menschen getötet, Kirchen und Häuser niedergebrannt. Ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleich gemacht.[44] Laut Angaben von über 550 zivilgesellschaftlichen Organisationen[45] hat der Regierungschef der Landesregierung von Manipur dabei die überwiegend hinduistischen Meiteis geschützt und den Mitgliedern der Kuki-Stämme, die überwiegend christlich sind, unterstellt, in Drogenhandel und die Unterbringung von Flüchtlingen aus Myanmar verwickelt zu sein.[46] Im Gegensatz zum Bundesstaat Mizoram, der Geflüchtete aus Myanmar aufnimmt, hat die Landesregierung von Manipur diesbezüglich die Position der Bundesregierung eingenommen und Flüchtlinge aus Myanmar verhaftet und in die Heimat zurück überführt. Erzbischof Peter Machado von Bangalore gab an, dass die anhaltende Gewalt in Manipur belege, dass „Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugungen und Praktiken der Gefahr ausgesetzt sind, zur Zielscheibe von Angriffen zu werden.“[47]
Im Mai 2023 wurden zwei Christinnen aus Manipur – Glory und Mercy – nackt über die Straßen gejagt. Eine wurde vergewaltigt, die andere tätlich angegriffen. Der Vater und der Bruder der beiden Frauen wurden getötet, als sie versuchten, sie zu beschützen.[48] [49]Die beiden Frauen und ihr Bruder hatten sich in ein Polizeifahrzeug geflüchtet, in dem mindestens fünf Polizisten saßen; diese flohen jedoch, als eine aufgebrachte Menschenmenge sich näherte und die zwei jungen Frauen aus dem Fahrzeug zog.[50]
Pater Babu Francis, Leiter des Bereichs Soziale Arbeit in der Diözese von Allahabad in Uttar Pradesh, wurde aufgrund von Anschuldigungen, er habe gegen die Anti-Konvertierungsgesetze des Landes verstoßen, inhaftiert. Er wurde drei Monate lang festgehalten, bevor er im Dezember 2023 entlassen wurde.[51]
Ebenfalls in Uttar Pradesh wurden im Februar 2024 Pater Dominic Pinto und neun Zivilisten festgenommen, die eine Versammlung von evangelikalen Seelsorgern in einem katholischen Zentrum organisiert hatten.[52]
Im September wurde ein pfingstkirchlicher Pfarrer in Maharashtra nach der Einweihungsfeier einer privaten Wohnung von einer aufgebrachten Menschenmenge verprügelt. Die Wohnung befand sich neben einem hinduistischen Tempel; die dort versammelten rund 20 Männer hatten den christlichen Nachbarn dabei zugesehen, wie sie im Haus zusammenkamen. Als die Gesellschaft sich auflöste und der Pfarrer losfuhr, folgten sie ihm und griffen ihn an.[53]
Im November 2023 wurde ein baptistischer Pfarrer, Pranjal Bhuyan, in Assam verhaftet, weil er gegen den frisch verabschiedeten Assam Healing Act (Gesetz über Wunderheilungen) verstoßen haben sollte. Er hatte zuvor zu Mitgliedern einer Stammesgemeinschaft in einem Dorf gepredigt. Erzbischof Moolachira von Assam erklärte dazu, dass es irreführend sei, eine Predigt als Versuch der „Wunderheilung“ zu werten und dass Heilung nicht dasselbe wie ein „Bekehrungsversuch“ sei.[54]
Am ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 2024 störte ein Mob der rechtsextremen Organisation Vishwa Hindu Parishad (VHP, Welt-Hindu-Rat) einen Gottesdienst in Mahuva; sie drangen in die Kirche ein, skandierten „Jai Shri Ram“ („Heil sei Rama, dem Herrn“) und behaupteten, dass die Kirche eine Genehmigung brauche, um den Gottesdienst halten zu dürfen. Am Tag darauf wurden in Odisha zwei Stammesfrauen verprügelt, weil sie bezichtigt wurden, einen Bewohner ihres Dorfes zwangsbekehrt zu haben. Zur selben Zeit wurde in Uttar Pradesh einem christlichen Mann, der aus der Kaste der Unberührbaren (Dalit) stammt, durch Mitglieder des VHP der Schädel zu einer Tonsur rasiert. Anschließend wurde sein Kopf mit Farbe beschmiert und die Täter zogen mit ihm durch das Dorf.[55]
Auch der Vandalismus an christlichen Einrichtungen und Kirchen setzte sich im Berichtszeitraum fort. Im August 2023 stürmte eine Gruppe von Mitgliedern einer hinduistischen Organisation die Zion-Gebetshalle in Delhi und verwüstete das Gelände, während sie Parolen skandierten.[56] Bereits im Januar 2023 waren Kreuze und Grabsteine auf einem der ältesten katholischen Friedhöfe von Mumbai, St. Michael‘s, mutwillig zerstört worden.[57] Im Februar 2024 griff ein Mob unter wütenden „Jai Shri Ram“-Rufen eine Kirche an und zerstörte das Kruzifix, Stühle und das Dach. Zwanzig christliche Dalit wurden dabei verletzt.[58] Im April 2024 zerstörten Vandalen die Mutter-Theresa-Schule im südindischen Staat Telangana, nachdem Lehrer Schülern, die statt der Schuluniform Kleidung im traditionellen Safran-Farbton hinduistischer Mönche trugen, den Zugang zum Klassenzimmer verweigert hatten. Eltern klagten unter Berufung auf die Paragrafen 153(A) (Förderung der Feindseligkeit zwischen unterschiedlichen Religionen) und 295(A) (Beleidigung religiöser Gefühle) des Strafgesetzbuches gegen die Schule.[59]
Perspektiven für die Religionsfreiheit
Die indische Demokratie ist die lebendigste Demokratie im Süden Asiens, robuster als die von Pakistan, Bangladesch oder Sri Lanka, und weitaus robuster als die von Myanmar. Indien teilt sich eine Grenze – und befindet sich in einem angespannten Grenzkonflikt – mit China, der gefährlichsten autoritären Weltmacht. Doch die zunehmenden Einschränkungen, mit denen Christen und Anhänger anderer nicht-hinduistischer Religionen konfrontiert sind, sowie die religiös motivierte Gewalt und deren Nicht-Ahndung, die Einschüchterung von Minderheiten und die zunehmende Beschneidung der persönlichen Religionsfreiheit sind zutiefst besorgniserregend. Indien steht beispielhaft für die „hybride Verfolgung“ von Menschen, bei der die Anhänger der „falschen“ Religion sowohl Ziel pseudo-legaler Maßnahmen als auch blutiger tätlicher Angriffe sind. Das Maß der Gewalt unterscheidet sich je nach Region erheblich. In Bundesstaaten wie Uttar Pradesh, Chhattisgarh und Maharashtra im Norden und Karnataka im Süden des Landes sind dabei die sozialen Einschränkungen und die zivile Gewalt am ausgeprägtesten. Obwohl die Partei von Premierminister Narendra Modi bei der jüngsten Wahl keine so große Mehrheit mehr wie bisher verzeichnen konnte, schränken die staatlichen Restriktionen, wie z.B. die neuen, strengeren Anti-Konvertierungsgesetze oder die missbräuchliche Anwendung des Gesetzes über Zuwendungen aus dem Ausland, den Handlungsspielraum religiöser Nichtregierungsorganisationen stark ein. Daher bleiben die Aussichten für die Religionsfreiheit in Indien weiterhin düster.
Quellen