NIGERIA
Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Die Bundesrepublik Nigeria ist mit mehr als 227 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Afrikas, die größte Volkswirtschaft des Kontinents und eines der führenden Ölförderländer.[1] Sie hat die Regierungsform einer parlamentarischen Demokratie. Das Land ist in 36 Bundesstaaten und ein Federal Capital Territory, das Territorium der Hauptstadt Abuja, gegliedert.
Die 1999 in Kraft getretene Verfassung[2] untersagt es der Bundesrepublik sowie den einzelnen Bundesstaaten, eine Staatsreligion festzulegen (Artikel 10), und zählt religiöse Toleranz zu den Grundsätzen des Landes (Artikel 23). Laut Artikel 15, Absatz 2 sowie Artikel 42, Absatz 1 der Verfassung darf niemand wegen seines Glaubens diskriminiert werden. Artikel 222.b verlangt, dass politische Parteien für alle Bürger Nigerias offen sind, unabhängig von ihrer Religion. Darüber hinaus ist es Parteien untersagt, Namen, Symbole oder Logos mit religiösem Bezug zu verwenden (Artikel 222.e).
Des Weiteren gewährleistet Artikel 38, Absatz 1 der Verfassung das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Das schließt auch die Freiheit ein, die Religion oder den Glauben zu wechseln und entweder alleine oder mit anderen durch Gottesdienste, Religionsunterricht und das Befolgen religiöser Regeln den Glauben öffentlich oder privat zu bekennen und zu verkünden. Artikel 38, Absatz 2 sieht vor, dass niemand gegen seinen Willen zur Teilnahme am Religionsunterricht gezwungen werden darf, wenn der Unterricht nicht mit der eigenen Überzeugung im Einklang steht oder sich die Erziehungsberechtigen dagegen aussprechen. Das gleiche gilt auch für religiöse Feiern und das Befolgen religiöser Regeln. Laut Artikel 38, Absatz 3 dürfen Glaubensgemeinschaften oder Konfessionen in den von ihnen selbst betriebenen Bildungseinrichtungen den Anhängern ihrer jeweiligen Glaubensrichtung Religionsunterricht erteilen. Die gemäß Artikel 38 gewährten Rechte berechtigen laut Absatz 4 nicht dazu, „geheime Gesellschaften zu gründen, diesen beizutreten oder an deren Aktivitäten teilzunehmen“.
Zur Förderung der sozialen Integration ist der Staat laut Artikel 15, Absatz 3, Buchstabe c und d verpflichtet, interreligiöse Eheschließungen zu unterstützen und die Gründung von Vereinen zu fördern, die Mitglieder unterschiedlichen Glaubens aufnehmen. Um religiösen Spannungen vorzubeugen, ist in einigen Bundesstaaten (Kano, Borno, Niger, Katsina und Kaduna) gesetzlich vorgeschrieben, dass Geistliche eine staatliche Zulassung benötigen, um predigen zu dürfen.[3] Die Nigerianer sind insgesamt sehr religiös. In einer Umfrage gab eine große Mehrheit der Befragten an, dass Religion in ihrem Leben sehr wichtig sei.[4]
Der aktuelle Präsident Bola Ahmed Tinubu und seine Frau Oluremi Tinubu sind ein bekanntes Beispiel für eine interreligiöse Ehe in Nigeria. Das Paar ist seit 1987 verheiratet. Bola Ahmed Tinubu ist Moslem, Oluremi Tinubu ist ordinierte Pastorin der pfingstkirchlichen Redeemed Christian Church of God (Erlöste Christliche Kirche Gottes).[5]
Nigeria hat ein komplexes Rechtssystem, das sich auf vier verschiedene Rechtsquellen beruft: angelsächsisches Recht, Common Law, Gewohnheitsrecht und in mehreren Bundesstaaten islamisches Recht (Scharia).[6] Während im Norden des Landes islamisches Strafrecht (insbesondere die malikitische Ausprägung) verfassungsrechtlich anerkannt und praktiziert wird, findet im Süden immer noch das unter britischer Kolonialherrschaft eingeführte australische Strafrecht nach dem Queensland Criminal Code von 1899 Anwendung.[7] [8] Dieses duale und nach Norden und Süden getrennte System wirkt sich bis heute sehr stark auf die Rechtslandschaft in Nigeria aus.
Laut Artikel 275, Absatz 1 der nigerianischen Verfassung ist jeder Bundesstaat berechtigt, ein Scharia-Berufungsgericht einzusetzen. Für das Federal Capital Territory in Abuja ist gemäß Artikel 260, Absatz 1 ein Scharia-Berufungsgericht vorgesehen. Als die Scharia 1999 und 2000 in zwölf nördlichen Bundesstaaten eingeführt wurde, waren viele Muslime begeistert, während die Christen die Entscheidung ablehnten. Es kam zu Ausschreitungen, bei denen mehrere Tausend Menschen – Christen und Muslime – ihr Leben verloren.[9] Bischof Mathew Hassan Kukah beschrieb die Lage 2022 in einem Artikel für die Premium Times wie folgt: „Die meisten Muslime im Norden Nigerias vertreten immer noch die Ansichten des alten Kalifats (1804–1903), welches das Christentum als eine fremde Religion betrachtete und es mit dem Kolonialismus in Verbindung brachte.“[10]
Im Februar 2024 berief der Präsident des Senats Godswill Akpabio einen 45-köpfigen Ausschuss zur Revision der Verfassung mit Vertretern aus allen 36 Bundesstaaten unter der Leitung des Vizepräsidenten des Senats Barau Jibrin ein.[11] Der aus Mitgliedern des Abgeordnetenhauses zusammengesetzte Ausschuss lud die Bevölkerung dazu ein, Vorschläge für eine Änderung der Verfassung von 1999 einzureichen. Themen waren unter anderem die nigerianische Polizei und die nigerianische Sicherheitsarchitektur, Staatseinnahmen, Fiskalföderalismus und Staatsausgaben, Justizreformen, Wahlreformen, traditionelle Institutionen, geschlechtsspezifische Fragen, Staatsbildungsprozesse und staatliche Bergbauaktivitäten.[12]
Im Oktober 2024 lehnte das Abgeordnetenhauses einen Gesetzentwurf ab, der die Ausweitung islamischen Rechts in der Verfassung von 1999 vorsah. Die vorgeschlagene Verfassungsänderung wurde von Aliyu Misau vorgelegt, dessen Wahlkreis Misau/Dambam im Bundesstaat Bauchi im Norden des Landes liegt. Mit seinem Vorschlag wollte Aliyu Misau das Wort „persönlich“ aus den Artikeln 24, 262, 277 und 288 streichen, wenn in diesen „islamisches Recht“ erwähnt wird. Befürworter der Reform argumentierten, das Wort „persönlich“ schränke die Anwendung der Verfassung im internationalen und Wirtschaftsrecht ein. Gegner hielten dem entgegen, das Wort „persönlich“ sei nicht ohne Grund in die entsprechenden Artikel aufgenommen worden und Religion solle ein privates Thema bleiben, da Nigeria säkular sei.[13]
Im Oktober 2024 begann der Leiter des Gesundheitsamts, welches dem Gesundheitsministerium unterstellt ist, mit einer Überprüfung des Strafgesetzbuchs mit dem Ziel, den Zugang zu „sicheren Schwangerschaftsabbrüchen“ zu vereinfachen. Am 25. Oktober 2024 veröffentlichte der Generalsekretär des Katholischen Sekretariats von Nigeria (CSN) eine Stellungnahme, in der er darauf hinwies, dass die Regierung „mit solchen Maßnahmen weiter Ängste vor der Verankerung postmoderner säkularistischer Ideologien schüre, welche die kulturellen, moralischen und religiösen Überzeugungen der nigerianischen Bürgerinnen und Bürger untergrabe“. Dieser Schritt bedrohe „Wert und Würde des Menschen“ und stehe im Widerspruch zur „Verfassung, welche den absoluten Schutz von und Respekt vor dem menschlichen Leben und der ihm innewohnenden Würde“ postuliere.[14]
Ein Post auf X (vormals Twitter) suggerierte im Dezember 2024, dass im Januar 2025 ein Scharia-Gericht in der Stadt Oyo im Südwesten des Landes eingerichtet werden sollte. Der Post ging viral und sorgte für hitzige Debatten in Nigeria. Die Verantwortlichen der Initiative stellten daraufhin klar, die Absicht sei nicht die Einrichtung eines Gerichtes, sondern lediglich eines Scharia-Ausschusses für Schlichtungen zwischen Muslimen gewesen. Die Eröffnung des Ausschusses wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.[15]
25 Jahre nach Einführung der Scharia hat sich die Lage im Norden Nigerias weiter verschlechtert, da ethnische Herkunft und Religion bei der Verteilung politischer Macht, Ressourcen und Privilegien eine große Rolle spielen.[16] In den meisten Bundesstaaten des Nordens ist das Blasphemieverbot sowohl in der Scharia als auch im Strafgesetzbuch verankert.
Die Umsetzung von Scharia-Urteilen geht in der Regel mit grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Behandlungen und Bestrafungen einher wie etwa Amputationen und körperlicher Züchtigung.[17] Es sogar zu Todesurteilen kommen[18], was mit den ratifizierten internationalen Verträgen Nigerias im Konflikt steht.[19] Die hisbah (Religionspolizei) setzt zudem moralische und gesellschaftliche Restriktionen durch, was sich äußern kann in: der Konfiszierung und Zerstörung von Bierflaschen[20]; der Schließung von Shisha-Bars; einem Verbot „moderner“ Haarschnitte; einem Essensverbot in der Öffentlichkeit während des Ramadan[21] (sogar in nicht muslimisch kontrollierten Gegenden); der Auflösung „unsittlicher“ Zusammenkünfte; und der Verhaftung von Personen, die sich nicht an die Scharia halten[22]. In den Bundesstaaten Kano, Zamfara, Yobe und Sokoto sind hisbah-Kräfte auch gesetzlich verankert.[23] Dies steht im Widerspruch zu Artikel 214.1 der nigerianischen Verfassung, welcher vorgibt, dass „in der gesamten Bundesrepublik sowie in ihren Bestandsteilen kein anderer Polizeiapparat [außer der nigerianischen Polizei] etabliert werden darf“.[24]
Christen im Norden des Landes berichten regelmäßig von tief verwurzelter Diskriminierung. Diese umfasst: politische Ausgrenzung und weniger Arbeitsmöglichkeiten; christliche Männer dürfen keine muslimischen Frauen heiraten; christlicher Unterricht ist in öffentlichen Schulen nicht erlaubt, weibliche Schülerinnen müssen einen Hijab tragen; christliche Studenten erhalten keine staatlichen Stipendien und christliche Absolventen werden auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert; christliche Kirchen dürften kein Land kaufen und Baugenehmigungen für einige Kirchen werden abgelehnt; christliche Frauen und Mädchen sind dem Risiko ausgesetzt, entführt, zwangsverheiratet und zwangskonvertiert zu werden.[25]
Im Südwesten Nigeria, wo eine große muslimische Minderheit mit einer mehrheitlich christlichen Bevölkerung zusammenlebt, kommt es hingegen zu keinen schwerwiegenden Vorfällen religiös motivierter Gewalt und das interreligiöse Zusammenleben ist grundsätzlich von Respekt geprägt.[26]
Eine seit Längerem unter Christen diskutierte Frage ist, warum Nigeria als Land, das keine Staatsreligion hat und dessen Einwohner zu annähernd 50 % Christen sind, unter Präsident Ibrahim Babangida 1986 Vollmitglied der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) wurde, die unter anderem das Ziel verfolgt, die „Symbole des Islams und das gemeinsame Erbe zu schützen“, den „universellen Charakter des Islams zu verteidigen“ und die „Vorreiterrolle des Islams in der Welt wiederzubeleben“.[27] Auch die 2022 getroffene Entscheidung der Bundesregierung unter Präsident Buhari, die Beziehungen mit dem Iran zu stärken, wurde kontrovers diskutiert.[28]
Vorfälle und aktuelle Entwicklungen
Während des zweijährigen Berichterstattungszeitraums wurde Nigeria von einer schweren und eskalierenden Welle der Gewalt heimgesucht, verursacht vor allem durch islamistische Gruppen wie Boko Haram und den Islamic State – West Africa Province (Islamischer Staat – Westafrikanische Provinz, ISWAP). Zwar lassen sich keine genauen Zahlen belegen, Fakt ist jedoch, dass Christen in dieser Zeit zu Opfern von außergerichtlichen Tötungen und Entführungen durch aufständische Gruppen und kriminelle Banden wurden.
Religionszugehörigkeit spielt bei der anhaltenden Gewalt in Nigeria eine Rolle. Nichtsdestotrotz liegen den Konflikten auch auf eine Reihe von gesellschaftlichen Faktoren zugrunde, darunter unter anderem Armut, seit Längerem existierende ethnische und interkommunale Gewalt, gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen dem nomadischen Hirtenvolk der Fulani (auch Fulbe genannt) und nicht fulanischen Landwirten aufgrund von Streitigkeiten über Land- und Wasserressourcen, mangelnde Bildung, Jugendarbeitslosigkeit, schwache Institutionen und fehlende Maßnahmen seitens der Regierung.
Auch wenn Christen am meisten unter extremistischer Gewalt zu leiden haben, gehört zur Wahrheit auch, dass die Terrorgruppen fast ausschließlich in den Bundesstaaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung aktiv sind und ihre Gewalt somit nicht nur Christen, sondern auch Muslime trifft.
Aufgrund der schier unfassbaren Menge an Verstößen gegen die Religionsfreiheit zwischen Januar 2023 und Dezember 2024 kann in diesem Abschnitt nur eine Auswahl der Vorfälle und Entwicklungen wiedergegeben werden, die sich im Berichterstattungszeitraum in Nigeria zugetragen haben.
In diesem Zeitraum wurden die Nachrichten in Nigeria von brutalen und gewalttätigen Angriffen vor allem im Nordosten, Norden und im „Middle-Belt“ genannten mittleren Bereich des Landes dominiert. Die meisten Attacken wurden dabei von islamistischen Terrorgruppen wie Boko Haram und dem Islamischen Staat (ISWAP) durchgeführt.
Im Januar 2023 wurden 8 Landwirte aus Makilwe im Bundesstaat Borno von Boko Haram entführt, eine Person wurde dabei getötet.[29]
Am 25. Februar 2023 fanden in Nigeria Präsidentschaftswahlen sowie Wahlen für die beiden Kammern des Parlaments statt. Bola Ahmed Tinubu gewann das knappe Rennen um die Präsidentschaft. Die Wahlbeteiligung lag bei 25,7 %.[30]
Wahlbeobachter der EU stellten fest, dass mangelnde Transparenz und die verspätete Bekanntgabe der Wahlergebnisse das Vertrauen der Wähler in die Politik geschwächt haben. Am Wahltag sei es zu einer Reihe von „Verstößen gegen festgelegte Protokolle“ gekommen, was „das Vertrauen der Öffentlichkeit schwer beschädigt“ habe.[31]
Am 29. Mai und am 23. Juni 2023 wurden im Bundesstaat Plateau mindestens 1.110 Christen – darunter 20 Geistliche – von militanten Fulani und anderen Gruppierungen in konzertierten Angriffen getötet.[32]
Am 10. August 2023 wurden in den Ortschaften Batin and Rayogot (Bundesstaat Plateau) bei einem von militanten Fulani durchgeführten Massaker 21 Menschen getötet, darunter ganze Familien. In der Nähe stationierte nigerianische Soldaten gelang es trotz vorheriger Warnung nicht, zu intervenieren, was den Verdacht aufkommen ließ, das Militär sei in den nächtlichen Angriff involviert gewesen.[33]
Am 12. September 2023 töteten Fulani-Schäfer und „andere Terroristen“ zehn Christen in dem Ort Kulben in Plateau.[34]
Im Oktober 2023 erschossen Mitglieder von Boko Haram 17 Menschen im nordöstlichen Bundesstaat Yobe. Bei der Beerdigung der Opfer tötete Boko Haram weitere 20 Personen mit einer Landmine. Die örtlichen Behörden konnten keine genauen Angaben zur Anzahl der Opfer machen.[35]
Zwischen dem 21. und dem 30. Oktober 2023 wurden in Gwer West im Bundesstaat Benue 12 Personen getötet und 13 Frauen vergewaltigt. Laut der Foundation for Justice, Development and Peace (Stiftung für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden), einer katholischen Mission in Makurdi, der Hauptstadt von Benue, wurden in Benue zwischen dem 4. Mai und dem 18. Oktober 2023 mindestens 153 Menschen von militanten Extremisten getötet. In einem Interview mit TruthNigeria gab Pater Cletus Bua, Priester der Gemeinde St. Francis Xavier in Agagbe/Benue, an, die Fulani hätten die Kontrolle über acht Verwaltungsbezirke in Gwer West übernommen. Zudem vergewaltigten die Terroristen Frauen in den Ortschaften und ließen sie danach manchmal frei, meistens würden sie aber im Anschluss getötet.[36]
Im Oktober 2023 kamen bei einem Attentat in der Hauptstadt Abuja zwei Polizisten ums Leben. Das Attentat wurde von Mitgliedern der in Nigeria verbotenen schiitischen Organisation Islamic Movement in Nigeria (Islamische Bewegung in Nigeria, IMN), die enge Beziehungen zum Iran pflegt, verübt. Sidi Sokoto, ein schiitischer Gelehrter, hielt dem entgegen, die Polizei habe die für Schiiten wichtige symbolische Arbaeen-Pilgerfahrt aufgelöst, wobei mehrere Gläubige getötet oder verletzt wurden.[37]
Am 23. Dezember 2023 begannen Hunderte Terroristen in einer konzertierten 8-tägigen Aktion eine Reihe von Angriffen auf vor allem christliche Ortschaften in Plateau. Bei den Angriffen, an denen sich unter anderem auch Söldner aus Niger, dem Chad und aus Kamerun sowie militante Fulani beteiligten, starben mindesten 295 Zivilisten.[38] Die Nigeria-Stelle von Amnesty International bestätigte 140 Tote in den mehrheitlich von Christen bewohnten Gebieten Bokkos und Barkin-Ladi an Heiligabend.[39] Das Europäische Parlament verurteilte am 8. Februar 2024 „aufs Schärfste die über Weihnachten begangenen Gewalttaten gegen Christen und andere Gemeinschaften, die zu einer beispiellosen Zahl von Toten, Verletzten und Vertriebenen geführt haben“, und bekundete seine Solidarität mit den Betroffenen.[40]
Anfang 2024 kam es zu weiteren Angriffen auf christliche Ortschaften. Im Bezirk Bungha wurden Hunderte Personen vertrieben. Viele Dörfer wie etwa Washna, Kombili und Changal wurden im Anschluss von Fulani-Siedlern besetzt.[41]
Im März 2024 verschleppten Terroristen von Boko Haram Dutzende Vertriebene – vor allem Frauen – aus einem Auffanglager in Gamboru Ngala, wohin diese nach Angriffen von Aufständischen geflohen waren. Laut Schätzungen lag die Anzahl der entführten Personen zwischen 113 und 200.[42]
Im Oktober 2024 nahm das Militär 13 militante Fulani fest, die die Bevölkerung im Bundesstaat Nasarawa terrorisiert und Menschen getötet hatten. Laut Angaben des befehlshabenden Offiziers war es in den vorangegangenen 4 Monaten zu fünf Angriffen von Fulani-Milizen in Nasarawa gekommen.[43]
Im November 2024 forderte Wilfred Chikpa Anagbe, Bischof in der Diözese Makurdi, die Regierung nach einer weiteren Eskalation der Gewalt in Benue, die zu einer Schließung von 15 Kirchen in Makurdi führte, zum Handeln auf. Anagbe führte aus, dass sich auch Gemeinden in den Diözesen Otukpo und Katsina-Ala aufgrund der zunehmenden Anzahl an Tötungen und Entführungen in der Region zur Schließung gezwungen sähen.[44]
Im Dezember 2024 kam es erneut und vor allem in der Weihnachtszeit zu einer Reihe von brutalen Angriffen gegen christliche Gemeinden im Middle Belt. Dutzende Menschen verloren dabei ihr Leben. Laut mehreren Berichten von lokalen Kirchen, die ACN vorliegen, ereigneten sich die heftigsten Angriffe am 1. Weihnachtstag in Anwase in Benue: Mindestens 47 Menschen – darunter auch Kinder - wurden getötet und alle acht Außenstellen (Kapellen) der Gemeinde St. Maria sowie ärztliche Kliniken, Schulen und Häuser wurden durch Brände zerstört. Der Priester der Gemeinde und sein Assistent überlebten nur, weil sie sich den ganzen Tag in Gebüschen versteckt hielten. Berichte über ähnliche Angriffe liegen auch aus der Diözese Makurdi (Benue) und aus Plateau vor. Trotz mehrfacher Appelle der Katholischen Kirche ist es der nigerianischen Regierung bislang nicht gelungen, die Sicherheitslage zu verbessern oder die anhaltende terroristische und interkommunale Gewalt im Land einzudämmen.[45]
Die Interessen der Fulani werden in Nigeria von zwei Organisationen vertreten, der Miyetti Allah Cattle Breeders Association (in etwa: Fulani-Viehzüchtervereinigung) und der Miyetti Allah Kautal Hore (in etwa: Fulani-Hirtenverband). Beide Organisationen werden von großen Akteuren innerhalb der Fulani-Viehbranche dominiert und sehen sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, Gewalt im Land zu fördern oder zumindest zu rechtfertigen. Beide Organisationen bestreiten jedoch jegliche Beteiligung an kriminellen Machenschaften.[46] Unter Beobachtern der wiederholten Angriffswellen in Nigerias Middle Belt gilt es als gesichert, dass das Ziel der militanten Fulani bei ihren Angriffen auf die Dörfer in der Region keine Weidegründe für ihr Vieh sind, sondern die Vertreibung der Christen aus ihrer angestammten Heimat.[47] Einige Analysten vertreten die Auffassung, dass die Fulani-Miliz entweder ihren Ursprung in dschihadistischen Gruppen wie Boko Haram, ISWAP oder der aus Mali stammenden und mit al-Kaida in Verbindung stehenden Macina Liberation Front (Befreiungsfront von Macina, MLF) hat oder zumindest von diesen unterstützt wird.[48] Kämpfer aus Mali und anderen Nachbarländern können die schlecht überwachte Grenze mit der Hilfe von verbündeten regionalen Netzwerken leicht überqueren.[49]
Im Berichterstattungszeitraum kam es zum ersten Mal zu einem Angriff durch militante Fulani auf eine Schule. Dieser Vorfall steht beispielhaft für die besorgniserregende Eskalation der Gewalt gegen Christen in Nigerias Middle Belt. Am 7. Mai 2024 drangen bewaffnete Männer in die Father Angus Frazer Memorial High School im Bundesstaat Makurdi ein. Der Angriff erfolgte in der Nacht, die Schüler befanden sich zu diesem Zeitpunkt in ihren Schlafsälen. Dank der schnellen Reaktion des Schulpersonals konnten alle Schüler sicher evakuiert werden. Dieser Angriff hat die Angst geschürt, dass Schulen dauerhaft zu einem neuen Ziel der anhaltenden Gewalt gegen Christen werden könnten.[50]
Der Angriff auf die Father Angus Frazer Memorial High School erfolgte nur wenige Wochen, nachdem sich die Entführung von 276 Schülerinnen (die meisten von ihnen Christinnen) der Government Secondary School in Chibok im Bundesstaat Borno durch Boko Haram zum zehnten Mal jährte. Mehr als ein Jahrzehnt später gelten noch über 90 Mädchen als vermisst. In einem vor kurzem veröffentlichten UNICEF-Bericht wird betont, dass die Zunahme solcher Fälle besorgniserregend ist: In den letzten 10 Jahren wurden 1.680 Kinder aus Schulen verschleppt und 180 Schüler sowie 14 Angestellte wurden bei Angriffen auf Schulen in Nigeria getötet.[51]
Nigeria sieht sich mit mehreren Sicherheitsproblemen konfrontiert, die den Frieden und die Stabilität des Landes untergraben und große Teile im Norden des Landes destabilisieren. Durch den seit Langem anhaltenden islamistischen Aufstand unter Führung der Terrorgruppe Boko Haram werden weiterhin Tausende Menschen im Nordosten des Landes vertrieben. Andere dschihadistische Gruppen, die als Ableger von Boko Haram betrachtet werden können, kämpfen untereinander um die Kontrolle über die Region um Borno an der Grenze mit Kamerun, dem Chad und Niger.[52]
Laut dem Global Terrorism Index von 2025 ist die Anzahl der Terrorangriffe in Nigeria 2024 zwar um 37 % gesunken, die Anzahl der daraus resultierenden Tode ist jedoch um 6 % auf 565 gestiegen. So hoch lag die Zahl zuletzt 2020. Angriffe der Fulani-Miliz fließen nicht in diese Statistik ein, da sie nicht als Terrorismus eingestuft werden. Der Anstieg in den Todeszahlen ist vor allem auf den anhaltenden Konflikt zwischen ISWAP und Boko Haram zurückzuführen, die zusammen für fast 60 % der Tode durch Terrorattacken verantwortlich sind.[53] 62 % der getöteten Personen waren Zivilisten, was einen deutlichen Anstieg von 21 % im Vorjahr bedeutet und Zivilisten zur am stärksten betroffenen Gruppe macht. Zum ersten Mal seit 2019 ist Boko Haram die tödlichste Terrorgruppe Nigerias vor ISWAP: 175 Tote 2024 bedeuten einen Anstieg von 18 % im Vergleich zu 2023, obwohl die Gruppe weniger Angriffe durchgeführt hat.[54]
Am 28. Juni 2022 verurteilte der irische Präsident Michael D. Higgins ein Massaker in einer Kirche in Owo im Nordosten des Landes mit den Worten: „Die Tatsache, dass eine solche Tat in einem Gotteshaus verübt wurde, ist einmal mehr Grund für eine scharfe Verurteilung. Dies gilt auch für jeden Versuch, Mitglieder eines Hirtenvolkes, die zu den am stärksten betroffenen Opfern des Klimawandels zählen, zum Sündenbock zu machen.“[55] Die hier angedeutete Klimawandeltheorie besagt, dass militante Angriffe auf Christen möglicherweise darauf zurückzuführen sind, dass es aufgrund des Klimawandels zu Konflikten um Wasser- und Landressourcen kommt. Die Theorie wurde von lokalen Kirchen bereits teilweise widerlegt. In einem Interview mit ACN wies der Leiter der in Makurdi ansässigen Foundation for Justice, Development and Peace Pfarrer Remigius Ihyula die Idee des Klimawandels als Erklärung für die anhaltende Gewalt zurück. Als Gegenargument führte er an, dass ähnliche Bedingungen in anderen Teilen der Welt nicht zu vergleichbaren Konflikt geführt haben. Ihyula geht laut eigener Aussage vielmehr davon aus, dass es sich um strategische Angriffe von Terroristengruppen handelt, für die die Hirten lediglich ein Werkzeug sind, um die lokale Bevölkerung zu vertreiben.[56]
Ein weiterer Aspekt, der die Gewalt in Nigeria weiter angeheizt hat, sind Vorwürfe der Blasphemie. Im Juni 2023 wurde der Metzger Usman Buda in Sokoto im Norden Nigerias wegen vermeintlich gotteslästerlicher Aussagen über den Propheten Mohammed von anderen Metzgern getötet. Buda hinterließ 6 Kinder. Er wurde zu Tode gesteinigt, nachdem er gesagt hatte, er stimme mit der Meinung von Scheich Abdul Azeez, einem bekannten muslimischen Gelehrten aus dem Bundesstaat Bauchi, überein. Amnesty International kam zu dem Schluss, dass der Streit von seinen Mördern inszeniert worden sei, die wegen Streitigkeiten über Marktverkäufe Groll gegen ihn hegten. Die Organisation verurteilte den Mord und warf der nigerianischen Regierung vor, „ein offenes Klima für brutale Gewalt“ geschaffen zu haben. Die USA riefen Nigeria dazu auf, seine Blasphemiegesetze abzuschaffen.[57]
In Nigeria kommt es überdies nach wie vor zu zahlreichen Fällen, in denen Frauen der Hexerei beschuldigt und als Konsequenz getötet werden. Am 18. Juni 2023 wurde Martina Okey Itagbor verdächtigt, zwei junge Männer getötet zu haben, die bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen waren. Ihr wurde vorgeworfen, den Unfall per Hexerei herbeigeführt zu haben. Sie wurde von einer größeren Menschenmenge zunächst verhört und anschließend gesteinigt und bei lebendigem Leibe verbrannt.[58]
Mubarak Bala, ein ehemaliger Muslim und mittlerweile Atheist, wurde im Februar 2022 von einem Gericht in Kano im Norden des Landes verurteilt, nachdem er sich der Blasphemie als schuldig bekannt hatte. Nachdem er seine Haftstrafe abgesessen hatte, wurde Mubarak Bala im Januar 2025 aus dem Gefängnis entlassen.[59]
Im Februar 2025 besuchte eine Delegation der Hamas Nigeria. Ein im nigerianischen Fernsehen übertragenes Interview mit Ghazi Hamad, einem hochrangigen Mitglied der Hamas, rief negative Reaktionen in der Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft hervor. In dem Interview rechtfertigte Ghazi Hamad den Angriff der Hamas gegen Israel am 7. Oktober als Vergeltung für Israels Taten gegen Palästinenser in Gaza.[60]
Am 13. Juni 2025 kam es zu einem Massaker an etwa 200 Christen in Benue. Bei den Opfern handelte es sich um Vertriebene, die in temporären Unterkünften auf dem Marktplatz in Yelawata in der Nähe von Makurdi Unterschlupf gefunden hatten. Laut Augenzeugenberichten hatte die Polizei die Angreifer, bei denen es sich um bewaffnete Milizen handelte, zunächst daran gehindert, die nahegelegene Kirche St. Joseph zu stürmen, in der 700 Vertriebene Zuflucht gefunden hatten. Die Männer hatten sich dann dem Markt zugewandt, dort zunächst die Eingänge der Unterkünfte der auf dem Platz untergekommenen 500 Vertriebenen in Brand gesetzt und – nachdem sie Berichten zufolge „Allahu Akhbar“ gerufen hatten – auf die auf dem Markt schlafenden Menschen das Feuer eröffnet.[61]
Im Norden Nigeria werden vor allem auch katholische Priester und Gläubige zum Ziel von Verschleppungen und Angriffen. Pater Thomas Oyode wurde im Oktober 2024 im Bundesstaat Edo im Süden Nigerias entführt und nach 11 Tagen in Gefangenschaft wieder freigelassen. Pater Emmanuel Azubuike wurde am 5. November 2024 im Bundesstaat Imo entführt, Pater Christian Uchegbu am Tag darauf auf seinem Rückweg aus Port Harcourt im Niger-Delta.[62] Insgesamt wurden 2023 in Nigeria 25 Priester und Seminaristen entführt; 2024 waren es insgesamt 12. Letztlich wurden alle wieder freigelassen. Drei Priester, die in den Jahren davor entführt wurden, gelten immer noch als vermisst: John Bako Shekwolo (2019), Joseph Igweagu (2022) und Christopher Ogide (2022).[63] 2025 verschlechterte sich die Situation und 12 Geistliche wurden allein im ersten Quartal entführt. Zwei Opfer, Pater Sylvester Okechukwu und der Seminarist Andrew Peter, wurden von ihren Entführern ermordet. Bei einigen dieser Taten gegen Geistliche handelt es sich tatsächlich um gegen das Christentum gerichtete Taten. In vielen Fällen sind allerdings auch kriminelle Gruppierungen involviert, die sich über Lösegeldforderungen bereichern, ein weit verbreitetes Modell in Nigeria. Religiöse Würdenträger werden hierbei oft nicht aus Glaubensgründen zum Ziel, sondern weil sie als leicht angreifbare und finanziell lohnenswerte Opfer angesehen werden.[64]
Eine positive Meldung war der Beschluss eines Gerichts in Nordnigeria zum Schutz eines 18-jährigen muslimischen Mädchens, das zum Christentum konvertiert war. Ihre Familie hatte gedroht, sie wegen ihrer Abkehr vom Islam zu töten.[65]
Auch Journalisten sehen sich in Nigeria weiterhin Bedrohungen und Gewalt ausgesetzt. Die Media Rights Agenda (MRA), eine Organisation, die Gewalt gegen Journalisten in Nigeria dokumentiert, konstatierte, dass Sicherheitskräfte eine ernste Bedrohung für die Pressefreiheit darstellen. Zwischen dem 1. Januar und dem 31. Oktober 2024 waren Sicherheitskräfte – einschließlich der Polizei, dem Militär und den Geheimdiensten – für 45 von 69 Angriffen auf Journalisten verantwortlich. Im Bericht der MRA werden verschiedene Arten von Übergriffen dokumentiert, darunter Entführungen, Festnahmen und sogar körperliche Gewalt.[66] Am 15. März 2024 wurde der Redakteur der Zeitung First News Segun Olatuji vom Geheimdienst Defence Intelligence Agency verhaftet. Er wurde später wieder freigelassen.[67]
Perspektiven für die Religionsfreiheit
Im Berichterstattungszeitraum ereigneten sich in Nigeria unzählige Angriffe, bei denen die Religionszugehörigkeit der Opfer eine kleine oder entscheidende Rolle spielte. Religionsidentität, insbesondere im Falle von Christen in den nördlichen Bundesstaaten, spielt eine extrem große Rolle: Christen (und moderate Muslime) sind mehr als andere dem Risiko von Gewalt, Verfolgung und Vertreibung ausgesetzt. Terrorgruppen verüben Anschläge auf alle Bevölkerungsgruppen. Laut Experteneinschätzungen sind davon jedoch aufgrund ihrer Religionsidentität viel mehr Christen als Muslime betroffen.[68] Darüber hinaus erleben vertriebene Christen in Auffanglagern für Binnenflüchtlinge religionsbedingt oftmals Vernachlässigung, Diskriminierung und Verfolgung durch das Personal in den Lagern. So wurden in einem Lager in Borno sogenannte „white paper cards“, die für den Erhalt von lebenswichtiger humanitärer Unterstützung notwendig sind, absichtlich nicht an Flüchtlinge ausgegeben. In anderen Fällen wurden Karten, die für Christen gedacht waren, stattdessen an Muslime vergeben.[69]
Christen im nigerianischen Middle Belt erleben bei Weitem die meiste Gewalt. In dieser christlich dominierten Region wurden Christen zu Opfern von Tötungen, sexualisierter Gewalt und Entführungen durch bewaffnete Gruppen, bei denen es sich oft um Fulani-Milizen handelt. Den Christen wird das ihnen angestammte Land gestohlen und von extremistischen Hirten zerstört. In der Folge sind Millionen Menschen ohne Obdach und Arbeit. Sie enden in Lagern für Binnenflüchtlinge, wo sie keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung oder Bildung haben. Aufgrund der Anzahl und Brutalität der Attacken gegen christliche Siedlungen vertreten viele Experten die Auffassung, dass es bei diesen Aufständen um gezielten Landraub geht, um Christen aus der Region zu vertreiben und die Region zu islamisieren.[70]
Die Religionsfreiheit in Nigeria steht unter Beschuss, vor allem aufgrund existierender Gesetze, welche die Diskriminierung von Christen in den nördlichen Bundesstaaten begünstigen, aber auch wegen der brutalen und anhaltenden Gräueltaten, die im gesamten Land verübt werden. Entmutigenderweise muss daher festgehalten werden, dass die Perspektiven für die Religionsfreiheit im bevölkerungsreichsten Land Afrikas weiterhin extrem düster aussehen.
Quellen