SYRIEN
Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Syrien befindet sich in einer Umbruchphase. Nach dem Zusammenbruch des alten Regimes und der Flucht des ehemaligen Präsidenten Bashar al-Assad nach Russland im Dezember 2024[1] infolge einer Blitzoffensive der Rebellen wurde Ahmed Hussein al-Sharaa zum neuen Interimspräsidenten der Arabischen Republik Syrien erklärt. Das neue Staatsoberhaupt ist einer der Anführer der Hayat Tahrir al-Sham (HTS) (Organisation zur Befreiung der Levante), eines von Al-Quaida abgespaltenen Bündnisses islamistischer Milizen, das zuvor schon jahrelang die Provinz Idlib unter Kontrolle hatte. Ahmed Hussein al-Sharaa unterzeichnete im März 2025 eine vorläufige Verfassungserklärung,[2] die die alte, im Jahr 2012 per Referendum verabschiedete Verfassung ablöste.[3] Die Verfassungserklärung sieht vor, dass das islamistische Regierungsoberhaupt fünf Jahre an der Macht bleiben soll, bevor im Jahr 2030 Wahlen abgehalten werden.
Artikel 3 der vorläufigen Verfassung Syriens besagt: „1. Die Religion des Präsidenten der Republik ist der Islam, und die islamische Rechtsprechung bildet die wichtigste Quelle der Gesetzgebung. 2. Die Glaubensfreiheit steht unter Schutz. Der Staat erkennt alle göttlichen Religionen an und garantiert ihren Anhängern die Freiheit, ihre Rituale auszuüben, sofern dies die öffentliche Ordnung nicht stört. 3. Das Personenstandsrecht unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften ist geschützt und wird im Einklang mit dem Gesetz anerkannt.“[4]
Laut Artikel 8 Absatz 3 ist der „Staat verpflichtet, gewalttätigen Extremismus in jeder Form zu bekämpfen und gleichzeitig die Rechte und Freiheiten der Menschen zu wahren“. Gemäß Artikel 10 „sind alle Bürger vor dem Gesetz gleich an Rechten und Pflichten, ungeachtet ihrer Ethnie oder Religion, ihres Geschlechts oder ihrer Abstammung.“ In Artikel 12 heißt es weiter: „1. Die Menschenrechte und grundlegenden Freiheiten stehen unter staatlichem Schutz. Der Staat garantiert seinen Bürgern diese Rechte und Freiheiten. 2. Alle Rechte und Freiheiten, die in den von der Arabischen Republik Syrien ratifizierten internationalen Verträgen, Chartas oder Übereinkommen über die Menschenrechte verankert sind, gelten als integraler Bestandteil dieser Verfassungserklärung“.
Artikel 33 legt fest, dass der Präsident der Republik vor der Volksversammlung einen Amtseid auf die Verfassung ablegen muss. Der Eid lautet: „Ich schwöre beim allmächtigen Gott, die Souveränität des Staates, die Einheit des Landes, die Integrität des Staatsgebiets und die unabhängige Entscheidungsfindung treu zu wahren und zu verteidigen. Ich gelobe, das Gesetz zu achten, die Interessen des Volks zu vertreten und aufrichtig und wahrhaftig danach zu streben, den Menschen ein Leben in Würde zu sichern, für Gerechtigkeit unter den Menschen einzutreten, und für ehrbare Werte und tugendhafte Moral einzustehen.“
Bei Menschenrechtsexperten stieß die Verfassungserklärung auf Kritik. Ein zentraler Stein des Anstoßes ist die Tatsache, dass islamisches Recht als wichtigste Grundlage der Gesetzgebung dient. Im Gegensatz zur vorherigen Verfassung werden durch die neue Verfassung nur „himmlische“ oder „göttliche“ Religionen anerkannt; damit scheinen nur die abrahamitischen Religionen gemeint zu sein, also das Christentum, der Islam und das Judentum. Laut Experten könnte diese Lesart dazu führen, dass einigen der ältesten Religionsgemeinschaften in Syrien die Anerkennung entzogen würde, wie z.B. den Jesiden oder Drusen. Die Befürchtung ist, dass diese verfassungsrechtliche Bestimmung im Laufe der Zeit so ausgelegt werden könnte, dass auch die Ismailiten und Alawiten (Ableger des schiitischen Islams) nicht mehr offiziell anerkannt wären.[5]
Die meisten Syrer sind sunnitische Muslime. Alawiten, Christen und Drusen ergänzen das religiöse Mosaik des Landes. Unter den nicht-arabischen Volksgruppen stellen die Kurden die Mehrheit; sie gehören überwiegend dem sunnitischen Islam an und leben im Norden des Landes. Kurden werden nicht ausdrücklich erwähnt und die Republik Syrien ist in Artikel 1 als arabische Republik definiert.
Assaad Elias Kattan, ein syrisch-orthodoxer Theologe aus dem Libanon, gab an, dass viele Christen „sich vor Islamisierung fürchten“, seit die HTS am 8. Dezember 2024 das Assad-Regime gestürzt hat.[6] Nach Aussagen von Kontaktpersonen des Hilfswerks „Kirche in Not“ in Syrien sind die Christen vor Ort entschlossen, aktiv an der Gestaltung der Zukunft des Landes mitzuwirken. Sie wollen es vermeiden, als religiöse Minderheit zu gelten, für die es einer Sonderbehandlung bedarf, oder sich gar als Bürger zweiter Klasse behandeln zu lassen.[7]
„Die geistlichen Führer der Gemeinden wollen sich nicht einfach als Minderheit definieren lassen, weil sie dann in der neuen Verfassung und den staatlichen Institutionen nicht mehr vertreten sind. Sie wollen gleichberechtigt sein“, gab die Quelle von Kirche in Not an, die aus Gründen der Sicherheit anonym bleiben möchte.[8]
Im Dezember 2024 versicherte die neue Landesführerschaft den Christen, dass sie keinen Grund zur Besorgnis hätten.[9] Seither haben eine Reihe von Treffen zwischen hochrangigen christlichen Führern und der neuen Regierung stattgefunden, bei denen die Regierung den Christen den Schutz ihrer Rechte zusicherte.[10]
Missionierung und Bekehrung sind nur in Bezug auf den Islam staatlich eingeschränkt. Muslimen ist der Übertritt zu einer anderen Religion verboten. Mitglieder anderer Religionen können jedoch zum Islam übertreten. Das Strafgesetzbuch verbietet das Verursachen von Spannungen zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften.[11]
Paragraf 462 des syrischen Strafgesetzbuchs legt fest, dass jeder, der religiöse Praktiken öffentlich diffamiert, mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft werden kann.[12]
Nach Paragraf 48 des Personenstandsgesetzes ist jede Eheschließung einer muslimischen Frau mit einem nicht-muslimischen Mann nichtig.[13]
Vorkommnisse und aktuelle Entwicklungen
Im Januar 2023 gab die syrische Regierung den legislativen Erlass Nr. 2 heraus. Er regelte die „Angelegenheiten und das Kindswohl von Kindern, deren Eltern unbekannt sind“.[14] Das Dekret legt fest, das ein Kind, dessen Herkunft unbekannt ist, als muslimisch gilt, so lange nichts anderes erwiesen ist; Pflegekinder dürfen nur von Paaren aufgenommen werden, die dieselbe Religion wie das Kind haben. Die Nichtregierungsorganisation Syrians for Truth and Justice (Syrer für Wahrheit und Gerechtigkeit) kritisierte diese Bestimmung, da sie Nicht-Muslime benachteilige, und wies darauf hin, dass der Erlass sich über die Bedingungen ausschweigt, unter denen ein Kind zu einem späteren Zeitpunkt seines Lebens vom Islam zu einer anderen Religion übertreten könne.[15]
Im April 2023 sollen Berichten zufolge Fraktionen der Syrischen Nationalarmee (SNA), einer von der Türkei geförderten Miliz, zwei jesidische Männer in Afrin gezwungen haben, zum Islam zu konvertieren.[16] Im Juli 2023 attackierte die SNA einen heiligen Schrein in einem jesidischen Dorf in Afrin.[17] Angaben jesidischer Aktivisten zufolge stehen die Jesiden in Syrien seit der Besetzung der Region Afrin durch die Türkei im Jahr 2018 unter hohem sozialem, kulturellem und religiösem Druck. Die Ezidina Foundation (Stiftung Ezidina) gibt an, dass die Anzahl von Jesiden in der Region Afrin seit der türkischen Besetzung von etwa 35,000 auf weniger als 1,000 gefallen ist.[18]
Im Juni 2023 wurde in die assyrische St.-Georgs-Kirche in Quamishli im Norden Syriens eingebrochen. Mobiliar wurde zerstört und wertvolle Dekorationselemente und Ikonen wurden gestohlen. Berichten zufolge sind Kirchen und andere christliche Gebäude in den Küstengebieten im Westen Syriens mindestens einmal im Monat Ziel von Vandalismus oder Plünderungen.[19]
Im Juli 2023 wurden in der syrischen Hauptstadt Damaskus mindestens sechs Menschen getötet und über 20 verletzt, als einen Tag vor dem Aschura-Fest eine Bombe in der Nähe eines schiitischen Schreins detonierte. An Aschura halten schiitische Muslime Trauerzeremonien ab. Nach Berichten des in London beheimateten Syrian Observatory for Human Rights (syrische Menschenrechtsbeobachtungsstelle) ereignete sich die Explosion unweit von Posten iranischer Milizen, die als wichtige Verbündete des ehemaligen syrischen Präsidenten Bashar al-Assad gelten.[20]
Im August 2023 gab der Islamische Staat (IS) den Tod des Anführers der Vereinigung, Abu Hussein al-Husseini al-Quarashi bekannt, und benannte Abu Hafs al-Hashimi al-Quarashi als seinen Nachfolger. Die Terrororganisation gab an, dass ihr Anführer bei „direkten Zusammenstößen“ zwischen dem IS und der HTS im von Rebellen kontrollierten Nordwesten Syriens ums Leben gekommen sei. Die HTS wies diese Aussage zurück. Zuvor hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan im April 2023 bereits angegeben, dass al-Quarashi von Mitgliedern des türkischen Geheimdienstes in Syrien getötet worden sei.[21]
Im August 2023 tötete die Organisation Ansar al-Tawhid, die mit al-Qaida in Verbindung steht, im Nordwesten Syriens mindestens 11 Soldaten durch Anschläge, bei denen sie Sprengstoff in Tunneln unterhalb von Stellungen der Armee vergraben und gezündet hatte und anschließend angriff.[22]
Im Dezember 2023 erklärte der syrische Präsident Bashar Al-Assad im syrischen Fernsehen, dass die Juden, die „nach Palästina eingewandert seien“, nicht das alte Volk Israels, sondern heidnische Chasaren aus der Gegend östlich des kaspischen Meeres gewesen seien, die später „zum Judentum konvertiert“ seien. Er leugnete die Belege für den Tod von sechs Millionen Juden durch den Holocaust und stritt ab, dass die Nazis „gezielte Foltermethoden und eine Tötungsmaschinerie für Juden“ eingesetzt hätten; er behauptete, die Juden seien bloß Kriegsopfer des zweiten Weltkriegs gewesen wie andere auch. Al-Assad fügte hinzu, dass der Holocaust „politisiert“ und als Vorwand verwendet würde, um europäische Juden nach Palästina zu schicken. Er behauptete außerdem, dass die Vereinigten Staaten den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen gefördert hätten.[23]
Das syrische Menschenrechtsnetzwerk dokumentierte im Jahr 2023 mindestens 33 Angriffe auf Moscheen, von denen 31 (94%) dem Regime zugeschrieben wurden und zwei (6%) den Demokratischen Kräften Syriens, einer Miliz unter kurdischer Führung.[24]
Im Dezember 2023 schlug die HTS eine neue politische Richtung ein, die von mehr Offenheit gegenüber den Minderheiten in der Region Idlib geprägt war. Einige beschlagnahmte Immobilien wurden zurückgegeben und Christen und Drusen dazu ermutigt, zurückzukehren. Nichtsdestotrotz herrscht weiterhin Diskriminierung, und viele der Grundstückseigentümer wurden für entstandene Verluste nicht entschädigt.[25]
Im Januar 2024 veröffentlichte die unabhängige Medienagentur Enab Baladi den Gesetzesentwurf zur öffentlichen Moral, den die Behörde für innere Angelegenheiten der sogenannten Syrischen Heilsregierung (Syrian Salvation Government, SSG) ausgearbeitet hatte. Die SSG bildet die zivile Verwaltungsstruktur der HTS im Rebellengebiet rund um Idlib. Der Gesetzesentwurf umfasste 128 Paragrafen. Neben Vorgaben zur Ausbildung der Sittenpolizei enthielt er eine Liste religiöser Verbote, wie z.B. das Verbot der Gotteslästerung, der Beleidigung der Propheten oder der Religion, oder der Verunglimpfung islamischer Rituale, Symbole oder Gelehrter. Der Entwurf enthielt auch Bestimmungen zu Hexerei, Wahrsagerei, der Praxis des Kaffeesatz- oder Handlesens, zur Nahrungsaufnahme in der Öffentlichkeit während des Ramadans und zu Geschäftsöffnungszeiten während des Freitagsgebets. Von Mädchen ab zwölf Jahren fordert der Entwurf außerhalb der eigenen Wohnung „zurückhaltende Kleidung“.[26]
Im Februar 2024 eröffnete das Hohe Komitee für Immobilien und Grundbesitz ein Büro in Raqqa, um den Grund- und Immobilienbesitz von Christen, die das Land während der Bürgerkriegsjahre verlassen hatten, zu „schützen“.[27] Der Großteil der Christen hatte Raqqa verlassen, nachdem der Islamische Staat die Stadt 2014 zur Hauptstadt seines Kalifats erklärt hatte.[28] Viele der von ihnen verlassenen Häuser sind seither unrechtmäßig besetzt oder beschlagnahmt worden. Als der Islamische Staat im Jahr 2017 aus der Stadt vertrieben worden war, ergriff eine kurdisch dominierte Organisation, die sogenannte Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, dort die Macht.[29]
Im Juni 2024 erklärte der syrisch-katholische Erzbischof von Hasakah-Nisibi, Joseph Chami, dass die Christen sich nicht an der umstrittenen Kommunalwahl beteiligen würden, die die Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien angesetzt hatte: „Die Lage ist komplex, und die Christen sind damit nicht glücklich. Die meisten erkennen die Rechtmäßigkeit und den Wert der für den 11. Juni angesetzten Kommunalwahlen nicht an und werden daher nicht wählen.“ Nach Aussage des Geistlichen würden christliche Jungen und Männer gezwungen, in der kurdischen Miliz zu dienen, während private Immobilien und Grundbesitz von Christen weiterhin beschlagnahmt seien oder sie illegal enteignet würden.[30]
Ende November 2024 fiel die Stadt Aleppo in die Hände der HTS. Laut Berichten der christlichen Gemeinschaften vor Ort kam es dabei nicht zu gewalttätigen Handlungen.[31] Im Dezember 2024 trafen sich die Führer der Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in Aleppo mit Vertretern der bewaffneten Einheiten, die die Stadt kontrollierten.[32]
Im Dezember 2024 bekräftigte der faktische Machthaber in Syrien, Ahmed al-Sharaa, seinen Willen, die religiöse Vielfalt in Syrien zu respektieren. „Wir sind stolz auf unsere Kultur, unsere Religion, unseren Islam. Teil der muslimischen Welt zu sein bedeutet jedoch nicht, dass wir andere Glaubensgemeinschaften ausgrenzen. Im Gegenteil: Wir stehen in der Pflicht, sie zu schützen“, erklärte er während eines Treffens mit dem geistlichen Führer der Drusen im Libanon, Walid Dschumblat.[33]
Am 31. Dezember 2024 traf sich al-Sharaa in Damaskus mit Vertretern der christlichen Gemeinschaften in Syrien. Der islamistische Führer bemühte sich darum, den christlichen Führern ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Er betonte, dass das neue Syrien zukünftig inklusiv sein werde, und wünschte Ihnen frohe Weihnachten und ein friedliches neues Jahr. Im Anschluss an das Treffen zeigte sich der Apostolische Nuntius in Syrien, Kardinal Mario Zenari, hinsichtlich des Versprechens von mehr Inklusivität durch den de-facto Machthaber vorsichtig optimistisch. Zwar erkannte Zenari die Symbolkraft der Zusicherung al-Sharaas an, betonte aber auch, dass sich deren wahrer Wert erst in der Umsetzung konkreter Maßnahmen zeigen werde.[34]
Johannes X., der griechisch-orthodoxe Patriarch von Antiochien, signalisierte ebenfalls Bereitschaft zur Kooperation mit den neuen Behörden. „Wir reichen Ihnen die Hand, um gemeinsam ein neues Syrien aufzubauen, und warten darauf, dass Herr al-Sharaa und seine neue Regierung uns ebenfalls die Hand reichen“, erklärte er am Neujahrstag 2025.[35]
Im Dezember 2024 eröffneten Unbekannte das Feuer auf eine griechisch-orthodoxe Kirche in Hama. Sie drangen in das Gotteshaus ein, beschossen die Mauern der Kirche und versuchten, das Kreuz abzunehmen.[36] Seit dem Fall der Regierung von Hama am 5. Dezember 2024 erfasste das syrische Menschenrechtsnetzwerk zahlreiche Menschenrechtsverletzungen, darunter außergerichtliche Tötungen, Zerstörung privater Wohnstätten und Angriffe auf öffentliches und privates Eigentum. Den gesammelten Berichten des Menschenrechtsnetzwerks zufolge waren unterschiedliche Gruppen dafür verantwortlich, ein großer Teil der Übergriffe ging jedoch auf das Konto der dschihadistischen Ansar-al-Tawhid-Organisation.[37]
Im Dezember setzten nicht-syrische Einheiten der HTS einen Weihnachtsbaum auf einem öffentlichen Platz in Hama in Brand.[38] Nach Angaben einer Quelle wurde der Baum zunächst zerstört, bevor er in Flammen aufging. Als Anwohner versuchten, die Zerstörung des Baums zu verhindern, gaben die HTS-Milizmitglieder Warnschüsse ab, um die Anwohner zu verscheuchen. Sie rechtfertigten ihr Handeln durch die Behauptung, der Baum sei ein Symbol des Polytheismus. In Aleppo kam es zu einem ähnlichen Vorfall: Ein Vertreter der HTS zerstörte dort einen Weihnachtsbaum in einem christlichen Viertel. Kurz darauf wurde dieser jedoch von der HTS durch einen neuen ersetzt. Auch in anderen von der HTS kontrollierten Zonen ereigneten sich vergleichbare Vorfälle.
Die Organisation Open Doors berichtet, dass islamistische Gruppen in Städten wie Aleppo und Damaskus in Vierteln, in denen Christen leben, aktiv sind und Frauen dort dazu aufrufen, den Hidschab zu tragen oder zum Islam überzutreten.[39]
Menschenrechtsaktivisten gaben an, dass der Verdacht besteht, dass rund 800 jesidische Frauen und Dutzende von Kämpfern der kurdischen Peschmerga-Miliz – ehemalige Gefangene des Islamischen Staates – im Dezember 2024 noch immer in einem Gefängnis syrischer Rebellen inhaftiert seien.[40]
Bei einem Treffen mit Pater Ibrahim Faltas von der franziskanischen Kustodie des Heiligen Landes im Januar 2025 erklärte der Interimspräsident al-Sharaa seine Bewunderung für Papst Franziskus und sagte, dass die Christen in Syrien nicht bloß eine Minderheit, sondern wichtiger Teil der Vergangenheit und Gegenwart des Landes seien.[41]
Im Januar 2025 konnten syrische Sicherheitskräfte einen Angriff des Islamischen Staats auf einen schiitischen Schrein in einem Vorort im Süden von Damaskus verhindern. Nach Angaben der staatlichen syrischen Nachrichtenagentur SANA hatten Geheim- und Sicherheitsdienst „erfolgreich einen Versuch des IS abwenden können, im Inneren des Sayyida-Zainab-Schreins eine Bombe zu zünden.“[42]
Das Institute for the Study of War (Institut für Kriegsforschung) berichtete im Januar 2025, dass der Islamische Staat in Syrien nach einigen Jahren der Umgruppierungen wieder auf dem Vormarsch sei. In der Vergangenheit hat der Islamische Staat immer wieder Situationen ausgenutzt, in denen durch Veränderungen in der internationalen Terrorismusbekämpfungspolitik in Syrien und Afrika ein Sicherheits-Vakuum entstanden ist.[43]
Im Januar 2025 besuchte Kardinal Claudio Gugerotti, der Präfekt des Dikasteriums für die Orientalischen Kirchen, im Auftrag von Papst Franziskus Syrien, um den Gläubigen in dem Krisengebiet ein Gefühl der Verbundenheit mit dem Heiligen Stuhl zu vermitteln.[44]
Ebenfalls im Januar 2025 verurteilte der katholische Erzbischof von Homs, Jacques Mourad, scharf die „zahlreichen Fälle, in denen junge Christen in den Straßen öffentlich bedroht und gefoltert werden, um Angst und Schrecken zu verbreiten und sie zum Übertritt zum Islam zu zwingen“.[45]
Im selben Monat verkündete Präsident Ahmed al-Sharaa eine „inklusive Übergangsregierung, die die Vielfalt Syriens widerspiegelt“. Im März 2025 schwor er das neue Übergangskabinett ein. Hind Kabawat, ein Christ und langjähriger Gegner Assads, wurde zum Minister für Soziales und Arbeit ernannt.[46] Der kurdische Syrer Mohammed Terko wurde Bildungsminister. Das Amt des syrischen Verkehrsministers wird seither vom Alewiten Yarub Badr bekleidet. Der Druse Amgad (Amjad) Badr wurde zum neuen Landwirtschaftsminister.[47]
Im Februar 2025 gab die winzige jüdische Gemeinschaft in Syrien an, dass sie zum ersten Mal seit Jahrzehnten in einer Synagoge in der Altstadt von Damaskus habe beten können.[48]
Am 10. März 2025 beendete die neue syrische Regierung eine bewaffnete Auseinandersetzung mit pro-Assad-Kräften. Die Kämpfe waren ausgebrochen, als die Assad-Loyalisten eine syrische Sicherheitspatrouille angegriffen hatten.[49] Der Konflikt, der daraufhin ausbrach, war einer der blutigsten des letzten Jahrzehnts in Syrien. Nach Angaben der Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden dabei fast 1.000 Zivilisten getötet, darunter auch Frauen und Kinder. Die meisten von den Regierungskräften getöteten Zivilisten waren Alewiten, aber auch sunnitische Muslime und Christen waren unter den Todesopfern.[50] Während der Kämpfe kam es auch zu einer Reihe von Rachemorden[51] und demütigenden Misshandlungen[52] von Alewiten. Die Auseinandersetzungen fanden hauptsächlich an der Mittelmeerküste Syriens statt, wo sie sich von Jableh[53] über den Verwaltungsbezirk Latakia bis nach Tartus, Hama und Homs ausbreiteten.[54] Der Interimspräsident leitete eine Untersuchung der Tötungshandlungen ein und versprach, „jeden, der für das Vergießen des Bluts der Zivilbevölkerung Verantwortung trage“ zur Rechenschaft zu ziehen.[55]
Im März 2025 kam es zu einem Ausbruch sektiererischer Gewalt in Damaskus. Nach Augenzeugenberichten gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters griffen in dem überwiegend alewitischen Stadtviertel al-Quadam Maskierte Wohnungen an und nahmen unbewaffnete Männer gefangen.[56]
Ebenfalls im März 2025 unterzeichneten drei christliche syrische Patriarchen einen gemeinsamen Aufruf, die „entsetzlichen Massaker“ dschihadistischer Milizen an der alewitischen Minderheit zu beenden. Der griechisch-orthodoxe Patriarch Johannes X., der Patriarch der melkitisch griechisch-katholischen Kirche Youssef I Absi und der syrisch-orthodoxe Patriarch Mar Ignatius Aphrem II., verurteilten die „Eskalation der Gewalt, die zu blutigen Angriffen auf unschuldige Zivilisten, darunter auch Mädchen und Frauen“ geführt habe, scharf.[57]
Im selben Monat kritisierten syrische jesidische Organisationen und Gewerkschaften die neue Verfassungserklärung der Arabischen Republik Syrien und forderten ihren sofortigen Widerruf und eine umfassende Überarbeitung. Die Syrische Unionspartei (SUP), die die assyrischen Christen vertritt, hatte die Verfassungserklärung zuvor kritisiert, weil sie die Rechte der ethnisch und religiös vielfältigen Bevölkerung Syriens nicht schütze.[58] Die SUP fordert einen säkularen Staat, der die Einheit, Souveränität und Unabhängigkeit des Landes bei gleichzeitiger Neutralität gegenüber den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen wahrt.
Perspektiven für die Religionsfreiheit
Mit dem Sturz des Assad-Regimes am 8. Dezember 2024 begann für das vom Krieg zerrissene Land ein neues Kapitel. Es ist aktuell noch zu früh, um die Auswirkungen der Machtübernahme durch die islamistische HTS auf die Religionsfreiheit in Syrien absehen zu können.
Einerseits blickt der al-Qaida-Ableger auf eine Geschichte der Unterdrückung religiöser Minderheiten in der Region rund um Idlib zurück. Andererseits hat der Interimspräsident Ahmed al-Shaara wiederholt versichert, die Rechte der Minderheiten zu achten. Kirchenführer haben sich daher vorsichtig optimistisch geäußert und ihre Bereitschaft zur Kooperation mit der neuen Übergangsregierung signalisiert.
Die Tatsache, dass die neue syrische Regierung um Hilfe aus westlichen Ländern ersucht hat, dürfte den Minderheiten im Land ebenfalls ein gewisses Gefühl der Sicherheit vermitteln, da westliche Hilfsgeber auf den Schutz der Rechte von Minderheiten bestehen. Die Berufung von nicht-Muslimen in das Übergangskabinett ist ebenso ein positiver erster Schritt. Im Gegensatz dazu steht jedoch die klar Islam-orientierte Ausrichtung der Verfassungserklärung. Diese gibt wenig Anlass zur Hoffnung, dass Syrien ein Staat werden könnte, in dem umfassende Religionsfreiheit herrscht, und nicht bloß die Freiheit, den eigenen Glauben auszuüben.
Es bleibt auch abzuwarten, ob es der neuen Übergangsregierung gelingen wird, sämtliche im Land tätigen bewaffneten Gruppen unter Kontrolle zu bringen. Das Massaker an Alewiten im März 2025 ist ein Beispiel, an dem klar wird, wie schnell die Situation aus den Fugen geraten kann. Auch das Selbstmordattentat vom 22. Juni 2025 auf die Mar-Elias-Kirche im Dweila-Viertel von Damaskus forderte 25 Todesopfer.[59] Dies war der tödlichste Anschlag der letzten Jahre in Damaskus und der erste seit dem Umsturz des Assad-Regimes; nach Angaben des Innenministeriums war eine Einheit des Islamischen Staats dafür verantwortlich. Der Vorfall verstärkte die Sorge um eine Reaktivierung extremistischer Schläferzellen, und könnte das Vertrauen in den Willen der neuen Regierung, Minderheiten zu schützen, untergraben. Der Islamische Staat ist weiterhin in Syrien aktiv und könnte die herrschende Instabilität ausnutzen.
Es wird noch Jahre dauern, bevor ein tiefgreifender politischer Wandel in Syrien spürbar wird. Freie und faire Wahlen sowie die Transformation von Rebellengruppen in politische Akteure, die in der Lage sind, staatliche Institutionen zu betreiben, sind Veränderungen, die Zeit brauchen. Ob die Millionen von Syrern, die durch den Krieg vertrieben wurden, einschließlich Christen und Mitglieder anderer Minderheitsreligionen, in das Land zurückkehren können, wird von der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung Syriens abhängen. Die Aussichten für die Religionsfreiheit sind daher aktuell ungewiss.
Quellen